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Ernst, aber nicht hoffnungslos – die zivilgesellschaftliche Lage nach den Bundestagswahlen

aus BER-Newsletter 3, 3/2025

Andreas Rosen von der Stiftung Nord-Süd-Brücken analysiert in seinem Artikel die Situation für die Zivilgesellschaft – nicht nur in Ostdeutschland. Den BER begleitet die Diskussion schon länger: Wie können wir als Berliner Landesnetzwerk und Vereine die ländlichen Regionen stärken, die uns umgeben? Ein Blick nach Berlin zeigt zudem: Auch hier gibt es die geteilte Stadt. Im Sinne der AG Globale Solidarität, zu der Andreas Rosen einlädt, rufen wir als BER dazu auf: „nach praktischen, gemeinsamen Schritten mit Verbündeten zu suchen.“

Drei Wochen nach der Bundestagswahl lassen sich für zivilgesellschaftliches, entwicklungspolitisches Engagement in Ost- bzw. Gesamtdeutschland ein paar beunruhigende Beobachtungen festhalten:

Geteilte politische Landschaften

Die AfD holte in Ostdeutschland – bis auf drei – alle Direktmandate. In allen fünf ostdeutschen Bundesländern lag sie mit 32% bis 39% der Stimmen vorne. In Görlitz 1 und im Osterzgebirge erzielte sie 46,7% bzw. 46%. In einzelnen Dörfern bekam sie gar 78% der Stimmen. Der Stimmenanteil der AfD im Osten ist doppelt so hoch wie im Westen. Matthias Quent, Soziologe der Hochschule Magdeburg-Stendal, sagt: „Wir haben eine politisch-kulturelle Spaltung zwischen Ost und West.“ Zudem gibt es bundesweit eine Stadt-Land-Spaltung: Auf dem Land liegt die AfD mit 25,8% deutlich über ihrem Gesamtergebnis. Das Ampel-Aus im November 2024 hat zur Erosion dieser Parteien in Ostdeutschland beigetragen: SPD, Grüne und FDP kommen zusammen gerade einmal auf 21% ostdeutschlandweit. In Stammländern wie Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern bekam die SPD nur noch 15% bzw. 12% der Stimmen. Im Osten entfaltet sich eine andere Parteienlandschaft als im Westen. Hier dominieren AfD, CDU und das BSW. Bei aller Differenzierung muss gleichzeitig unterstrichen werden: Seit den Wahlen am 23. Februar 2025 hat sich die AfD als gesamtdeutsche Partei mit über 20% etabliert. Sie gewinnt auch in Westdeutschland Wahlkreise. Sie kommt selbst in Regionen in Bayern auf deutlich über 20%.

Verunsicherte Zivilgesellschaft

Diese Tendenzen lassen die NRO-Szene nicht unbeeindruckt. Bei einem Nachwahltreffen von Engagierten in Vorpommern äußerten ca. 80% der Versammelten, dass sie mit dem Gedanken spielen wegzugehen, wenn sich die Zustimmungsraten zur rechtsextremen AfD bei den Landtagswahlen 2026 wiederholen. Bei online-Treffen der AG Globale Solidarität (ostdeutsche Landesnetzwerke und Stiftung Nord-Süd-Brücken) und des Zusammenhangs „Solidarischer Osten“, wo sich monatlich Demokratie-Initiativen, Vereine und Beratungsstellen aus den östlichen Bundesländern treffen, war sowohl die persönliche Erschöpfung als auch der Druck, unter dem die lokalen Vereine stehen, offensichtlich. Zudem wurde von vermehrten Übergriffen von Nazis auf linke und zivilgesellschaftliche Projekte (u.a. in Senftenberg und Neuruppin) berichtet. Diese Beschreibungen korrespondieren mit aktuellen Veröffentlichungen aus der Wissenschaft. Im Policy Brief des Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) vom 20. Februar 2025 „Schwindende Räume: Wenn demokratisches Engagement zur Zielscheibe wird“ wurde ein alarmierendes Bild von Anfeindungen und Bedrohungen gegenüber Engagierten gezeichnet. Die Folge sei auch Rückzug aus dem Engagement und dadurch in der Summe die Schwächung der Zivilgesellschaft.

Akut schlechtere Rahmenbedingungen

Erschöpfung, Frustration und Rückzugsgedanken sind auch Folgen davon, dass die ideellen und finanziellen Bedingungen von demokratischer, entwicklungspolitischer und zivilgesellschaftlicher Arbeit in den letzten Monaten schlechter geworden sind. Fehlende Landeshaushalte (z.B. in Sachsen und Brandenburg) sowie angekündigte Sparkurse führen dazu, dass vielen Vereinen Finanzierungszusagen und Sicherheiten fehlen, um ihre entwicklungspolitischen und gesellschaftspolitischen Projekte umsetzen zu können. Hinzu kommt, dass auf kommunaler Ebene, mit steigendem Einfluss der AfD, immer häufiger Finanzierungen für lokale Projekte (jüngst u.a. in Bautzen und in Freiberg) verhindert werden, obwohl diese Gelder Vollfinanzierungen oder 90%-Finanzierungen sind und somit kommunale Haushalte kaum belasten würden. Die Blockade hat inhaltliche, politische Gründe.

Die AfD baut ihre Machtbasis aus

Es gibt Einschätzungen, die besagen, das Wachstum der AfD in Ostdeutschland sei noch nicht abgeschlossen. Axel Salheiser vom Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena sagte hierzu im Interview (taz, 25.2.25): „Wir sehen eine lineare Entwicklung über die letzten Wahlen. Wenn wir diese Linie verlängern, dann gewinnt die AfD bei den nächsten ostdeutschen Landtagswahlen eine absolute Mehrheit.“ Unabhängig davon, ob diese Prognose in Sachsen-Anhalt oder Mecklenburg-Vorpommern eintreten wird, sollten wir das Szenario und die Folgen zumindest mal durchspielen und uns darauf vorbereiten. Tatsache ist, dass sich die AfD in den nächsten Jahren dank ihrer Wahlerfolge strukturell und finanziell auf Landes- und Bundesebene weiter verankern wird. Mit Geld, Personal und politischer Macht ausgestattet wird sie u.a. tun, was sie in ihren Wahlprogrammen angekündigt hat: Die demokratische Zivilgesellschaft zerstören.

Eingedenk dieser vier Beschreibungen, die ja nur ein kleiner und subjektiv vorgetragener Teil des Kontextes entwicklungspolitischer und zivilgesellschaftlicher Arbeit abbilden, müssten wir als regionaler entwicklungspolitischer Zusammenhang (ostdeutsche NRO, Landesnetzwerke, Stiftung Nord-Süd-Brücken), aber auch als gesamtdeutsche entwicklungspolitische NRO-Landschaft (VENRO und agl) und schließlich auch im Verbund mit anderen Segmenten der Zivilgesellschaft und Bewegungen der Demokratie- und Kulturarbeit, migrantischen Verbänden, BIPoC, feministischen und queeren Strukturen, aber auch mit Gewerkschaften, Kirchen und Wohlfahrtsverbänden in den Austausch kommen.

Reale Probleme fokussieren, positive Erzählungen

Wir brauchen einen Strategie-Wechsel: Weg davon, uns an der AfD und ihren Provokationen und Disruptionen abzuarbeiten, an ihrem Narrativ der Angst und ihrer rassistischen Migrationspolitik. Diana Kinnert und Harald Welzer weisen in der wochentaz vom 1.-6. März 2025 die Richtung: „Den Parteien, nicht zuletzt aber auch den Medien, ist dringend zu raten, sich jetzt mal die Vernünftigkeit der Bürgerinnen und Bürger zum Vorbild zu nehmen und ihre vordringlichen Probleme tatsächlich mal zu adressieren – als da wären: ein skandalös verengter Wohnungsmarkt, Pflegenotstand und ein Gesundheitssystem vor dem Kollaps…“ Genau darum geht es, sich wieder den wahren sozialen und ökonomischen Problemen zuzuwenden und mit konkreten Maßnahmen und Programmen zu belegen, dass diese demokratische Gesellschaft doch funktioniert und liefert. Ein Beitrag entwicklungspolitischer Vereine mit ihrer Bildungsarbeit und dem Globalen Lernen, gerade in vielen Regionen in Ostdeutschland, könnte es hier sein, positiv besetzte Geschichten der Migration zu kommunizieren: Dass Migration natürlich ist, dass sie Teil deutscher, europäischer und weltweiter Geschichte ist, dass sie die Antwort auf viele Probleme dieser Gesellschaft, vor allem auch im Osten, sein kann, dass die postmigrantische Gesellschaft ein produktiver Fakt ist, dass eine offene Gesellschaft und Asyl Kennzeichen einer lebenswerten Gesellschaften sind…

Schnittmengen statt Spaltung

In der gesellschaftlichen Dynamik von Spaltung und Polarisierung macht es keinen Sinn, selbst diese Spaltung weiter zu betreiben. Mit Blick auf die Bedingungen in Ostdeutschland, speziell Sachsen-Anhalt, aber auch Sachsen und Thüringen, geht es jetzt darum, vor allem die CDU davon zu überzeugen, dass die Zivilgesellschaft in diesen Bundesländern dringend die CDU an ihrer Seite (als stärkste demokratische Partei) braucht – bei allen berechtigten Auseinandersetzungen und inhaltlichen Differenzen. Und auch die CDU braucht die Zivilgesellschaft. Denn, die AfD will die Wähler*innenschaft der CDU übernehmen. Deswegen kann es gar nicht im Sinne der CDU sein, die breite Zivilgesellschaft zu schwächen oder zu delegitimieren, wie es die Partei mit ihrer „kleinen“ Anfrage vom 24. Februar 2025 getan hat. Es bleibt zu hoffen, dass die CDU, auch angesichts der vielen klugen Reaktionen aus den Reihen der Betroffenen, der Breite der Zivilgesellschaft und Wissenschaft, schnell begreift, dass dieses wahrlich „trumpige“ Verhalten (Behauptungen ohne substanzielle Faktenlage; es wird schon was hängenbleiben und auf jeden Fall verunsichern) der absolut falsche Weg ist! Was es jetzt braucht, ist eine Konsolidierung der parlamentarischen Mitte, ein verantwortliches und konstruktives Miteinander unter den demokratischen Parteien. Mit Blick auf die eingangs skizzierten erschwerten Finanzierungsbedingungen in Ostdeutschland, in Berlin oder nun auf Bundesebene müssen die Prämissen in den Ministerien überdacht werden: Investitionen in die Zivilgesellschaft sind Investitionen in die Infrastruktur einer stabilen Demokratie. Wer hier kürzt und obendrein delegitimiert statt zu befördern, der trägt selbst zum Abbau von einem demokratischen und diversen Gemeinwesen bei.

Resilienz und Solidarität

Bei verschiedenen Treffen zivilgesellschaftlicher Akteure und Initiativen wurde zuletzt auch betont, dass die eigenen Strukturen resilienter werden müssen. Ähnlich wie beim Kampf gegen den Klimawandel geht es auch beim Kampf gegen den gesellschaftlichen und politischen Wandel darum, sich den härter werdenden Umfeldbedingungen besser anzupassen. Organisationen müssen mit Blick auf die eigenen Strukturen und Selbstfürsorge robuster werden. Neue Finanzierungsstrategien und Partner müssen identifiziert werden. Hierbei kommen, so ein Vorschlag aus dem Saale-Orla-Kreis/Thüringen, auch kleine und mittelständische Unternehmen als Partner in Frage, mit denen es sowohl inhaltlich als auch strategisch eine breite Schnittmenge gibt. Vorstellbar ist des Weiteren eine gegenseitige Solidarität wie seinerzeit (2019) das Solidaritätsversprechen sächsischer Initiativen miteinander, sich im Falle eines Angriffes gegenseitig beizustehen. Es ist zudem auch eine breite Solidarität aus dem Westen und großen Städten notwendig. Menschen und Organisationen mit Privilegien, die unter relativ guten Bedingungen arbeiten, müssen sich überlegen: Wie kann unser solidarischer Beitrag mit Engagierten in Regionen und an Orten aussehen, die stärker unter Druck stehen? Zur größeren Resilienz kann auch der Austausch mit Aktiven aus anderen Bundesländern oder Nachbarländern beitragen, wo die extreme Rechte schon deutlich weiter ausgeprägt ist bzw. war (z.B. Österreich, Niederlande, Italien, Frankreich, Polen, Ungarn, USA…), um von ihnen zu lernen, wie mit den extremen Entwicklungen umgegangen werden kann und welche Strategien bzw. Instrumente dort gegebenenfalls gut funktioniert haben.

Um diese Beobachtungen und weitere Aspekte zu sortieren, sie mit Blick auf ihre Relevanz für uns zu priorisieren und gleichzeitig nach praktischen, gemeinsamen Schritten mit Verbündeten zu suchen, treffen sich in den nächsten Wochen ostdeutsche entwicklungspolitische Engagierte und Vereine, moderiert von der AG Globale Solidarität, immer dienstags um 13.00 Uhr online. Interessent*innen melden sich unter a.rosen@nord-sued-bruecken.de

Andreas Rosen, Stiftung Nord-Süd-Brücken