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Es geht nicht um „Entwicklung“, sondern um globale Gerechtigkeit

BER-Interview mit Jaqui Steinberger (BER)

aus BER-Newsletter 6, 6/2025

Jaqui Steinberger arbeitet seit April als Referent*in für Dekolonisierung der Entwicklungspolitik im BER-Koordinierungsbüro. Jaqui hat Regionalstudien, Asien- und Afrikawissenschaften studiert. Koloniale Machtstrukturen wirken bis heute fort, auch in der Entwicklungspolitik. Über diesen Zusammenhang haben wir mit Jaqui gesprochen. Und darüber, wie wir zur Dekolonisierung von Entwicklungspolitik beitragen können.

BER: Jaqui, du setzt dich beim BER mit Machtstrukturen und kolonialen Kontinuitäten in der Entwicklungspolitik auseinander. Es gibt viel Kritik an der Praxis, vor allem aus dem Globalen Süden – aber auch am Begriff „Entwicklung“ selbst. Was steckt dahinter – woher kommt dieser Begriff?

Jaqui Steinberger: „Entwicklung“ wird oft als etwas Positives verstanden – als Fortschritt, als Verbesserung. Es wird auch als etwas Natürliches und Selbstverständliches hingenommen. Aber historisch und ideologisch ist der Begriff eng mit kolonialen Machtverhältnissen verknüpft. Seit dem Zweiten Weltkrieg, vor allem mit der Antrittsrede des US-Amerikanischen Präsidenten Harry Truman von 1949, wurde die Welt in „entwickelte“ und „unterentwickelte“ Länder eingeteilt – damals entstand auch der Begriff der sogenannten „Dritten Welt“, den wir heute nicht mehr verwenden.

In dieser Aufteilung hat sich der Globale Norden selbst zum Maßstab gemacht. Dabei wurde übersehen, dass viele dieser sogenannten „Entwicklungsprobleme“ – zum Beispiel Armut, Hunger oder Naturkatastrophen – direkte Folgen kolonialer Ausbeutung sind und der Globale Norden eine große Verantwortung dafür trägt. Der Begriff „Entwicklung“ suggeriert, dass die einen schon am Ziel sind und die anderen ihnen nacheifern sollten – das ist eine zutiefst ahistorische und asymmetrische Vorstellung, die auf weißer Vorherrschaft beruht.

BER: Das heißt, es geht nicht nur um Worte und nicht nur um Praxis – sondern um ein ganzes Weltbild, was über den Begriff transportiert wird?

Jaqui Steinberger: Genau. Sprache ist nicht neutral. Sie formt, wie wir die Welt verstehen, und wird ebenso durch die eigene Sozialisierung geprägt. Wenn wir davon sprechen, dass bestimmte Länder „Entwicklungshilfe“ brauchen, dann stecken da Vorstellungen von Mangel und Defizit drin – und von einem Globalen Norden, der die Expertise, die Ressourcen und die Gelder hat. Diese Sichtweise reproduziert letztendlich wieder falsche Bilder, die nicht der Lebensrealität entsprechen.

Nach diesem Weltbild wird „Entwicklung“ als ein linearer Pfad verstanden, der auf ein Ziel zusteuert – ein Ziel, das sich am Maßstab des sogenannten „Westens“ orientiert (wobei der Begriff „Westen“ ebenso problematisch ist). Dieses Verständnis ist sehr eurozentrisch geprägt. Das alles sind Formen von epistemischer Gewalt: Andere Weltzugänge und Wissenssysteme werden abgewertet oder ignoriert.

BER: Viele Akteur*innen in der Entwicklungszusammenarbeit wollen eigentlich das Gegenteil – sie wollen Ungleichheit abbauen, globale Solidarität fördern. Wie passt das zusammen – wie stark ist die Entwicklungszusammenarbeit heute noch kolonial geprägt?

Jaqui Steinberger: Der entscheidende Punkt ist immer die Machtverteilung. Viele Akteur*innen handeln mit guten Absichten. Dennoch sind die Strukturen, in denen sie arbeiten, oft noch stark vom kolonialen Erbe geprägt.

BER: Also ist auch die Vorstellung, „anderen zu helfen“, Teil des Problems?

Jaqui Steinberger: Ja, weil sie oft ein Machtgefälle reproduziert. Und das ist genau das, was koloniale Narrative lange getan haben: Den Globalen Süden nicht als gleichwertigen Akteur zu sehen, sondern als Objekt von Fürsorge, Belehrung oder Modernisierung.

BER: Welche koloniale Kontinuitäten zeigen sich in der heutigen – auch kritischen – Entwicklungszusammenarbeit?

Jaqui Steinberger: Das fängt bei der Frage an: Wer sitzt am Tisch, wenn Entscheidungen getroffen werden? Welche Perspektiven sind bei Veranstaltungen, in Workshops, in Meetings vertreten, welche fehlen? Wer hat die Macht und die Ressourcen, eine Partnerschaft zu gestalten?

Gelder und Entscheidungsmacht liegen meist im Globalen Norden – oft in Institutionen, in denen überwiegend weiße Personen Führungspositionen innehaben. Diese Akteur*innen geben vor, was gefördert wird, wie Projekte auszusehen haben, welche Kriterien Erfolg definieren. Die Förderung von Entwicklungsprojekten ist mit nationalstaatlichen Interessen verknüpft, dies wird gegenwärtig weiter zunehmen. Oft sind Mittel der bilateralen Kooperation an politische oder wirtschaftliche Bedingungen gebunden, die die „Empfängerländer“ im Globalen Süden akzeptieren müssen. Das ist eine neokoloniale Steuerung wirtschaftlicher Macht.

Man erkennt koloniale Kontinuitäten auch darin, welches Wissen weitergegeben wird, und von wem. Es werden nach wie vor häufig weiße Expert*innen oder Expert*innen aus dem Globalen Norden in Projekte in Ländern des Globalen Südens entsandt – basierend auf der Annahme, dass die Expertise aus dem Globalen Norden kommt. Das ist ebenfalls eine Form epistemischer Gewalt – also die Auslöschung von lokalen, Indigenen und Schwarzen Wissensbeständen und die Marginalisierung von Expertise und Perspektiven aus dem Globalen Süden. Insbesondere bekommen Schwarze FLINTA-Personen innerhalb des Diskurses am wenigsten Mitspracherecht.

BER: Kann es unter diesen Voraussetzungen überhaupt eine dekoloniale Entwicklungspolitik geben? Oder braucht es ein grundlegend anderes Verständnis der globalen Zusammenarbeit?

Jaqui Steinberger: Ich glaube, dass es eine dekoloniale Entwicklungspolitik geben kann – dafür müssen wir allerdings radikal umdenken, was wir als Zusammenarbeit verstehen, und was Entwicklung überhaupt bedeutet.

BER: Wo müsste man da ansetzen?

Jaqui Steinberger: Für mich beginnt ein dekolonialer Ansatz damit, Macht abzugeben. Auf institutioneller Ebene bedeutet das, mehr Mittel direkt an Organisationen im Globalen Süden zu geben – ohne Filterinstanzen im Globalen Norden. Auf Organisationsebene heißt es zum Beispiel, für echte Repräsentation von marginalisierten Gruppen und Perspektiven zu sorgen und Entscheidungsmacht teilen.

Viele kritische Stimmen aus dem Globalen Süden plädieren für ein radikal dekoloniales Verständnis von globaler Solidarität – eins, das nicht auf Entwicklung basiert, sondern auf globale Gerechtigkeit. Das beginnt mit der Anerkennung historischer Gräueltaten in der Kolonialgeschichte als erste Form von Reparationen.

Arturo Escobar beispielsweise spricht in diesem Zusammenhang vom Pluriversum, also eine Realität, in der viele Welten nebeneinander existieren können. Um dafür Raum zu schaffen, müssen wir im Globalen Norden lernen, andere Wissenssysteme, Lebensweisen und Weltanschauungen als gleichwertig anzuerkennen – auch wenn sie nicht unserem wissenschaftlichen Paradigma entsprechen. Es muss möglich sein, dass viele Vorstellungen von Wandel und einem guten Leben nebeneinander existieren, ohne dass der Globale Norden die Maßstäbe setzt.

BER: Also weg von Entwicklungsprojekten, hin zu Reparationen?

Jaqui Steinberger: Es geht nicht darum, über Nacht ganze Hilfssysteme weltweit einzustellen, wie wir das gerade in den USA mit Trump sehen. Viele Projekte leiden extrem darunter und viele Menschen stürzen deswegen in eine Hungerkrise. Es muss eine geplante, gerechte Umstrukturierung geben. Der erste Schritt ist die Anerkennung kolonialen Unrechts. Dann kann es um vernünftige Reparationsauszahlungen und weitere Ansätze gehen – also das, was aus dem Globalen Süden schon lange gefordert wird.

BER: Der BER fordert auch eine gerechte Verteilung von Ressourcen. Der Globale Norden müsste seinen Überkonsum von Rohstoffen und Energie sowie die massive COÜberproduktion drastisch reduzieren und aufhören, den Süden an Ressourcen, Arbeitskräften und Wissen auszubeuten. Vielleicht wäre der größte Beitrag, den der Norden leisten kann, sich endlich vom Wachstumszwang zu lösen – der ist weiterhin eng mit dem Entwicklungsbegriff verknüpft. In dem Zusammenhang hast du vorhin das Pluriversum angesprochen – welche Konzepte aus dem Globalen Süden könnten helfen, ein dekoloniales Verständnis von Entwicklung und Zusammenarbeit zu fördern?

Jaqui Steinberger: Das Konzept Ubuntu stammt aus den Bantu-Sprachen der Xhosa und Zulu im südafrikanischen Raum. Es ist ein afrozentrisches Konzept, das Menschlichkeit und Gemeinschaft ins Zentrum stellt. Europäisches Denken ist sehr geprägt von Descartes’ „Ich denke, also bin ich“ – das rationale Individuum steht im Zentrum, und die Welt wird in dualistischen Kategorien aufgeteilt: Mensch/Natur, Mann/Frau, Westen/Osten, usw. Das Prinzip von Ubuntu hingegen lautet: „Ich bin, weil wir sind.“ Es geht um Verbundenheit.

Für uns im Globalen Norden ergibt nur das Sinn, was kategorisierbar ist. Im Ubuntu macht diese Einteilung wiederum keinen Sinn – es ist eine völlig andere Weltauffassung. Deshalb ist es für eine Dekolonisierung der Entwicklungszusammenarbeit auch so wichtig, andere Denkweisen anzuerkennen und unser eigenes Wissenssystem zu dekonstruieren. Wir müssen lernen, dass nicht jede Kultur die gleiche Vorstellung von Fortschritt oder Entwicklung hat wie wir.

BER: Und das heißt ja nicht, dass wir uns diese Weltanschauung aneignen, sondern eher, dass wir Raum dafür schaffen. Dass solche Perspektiven in der Bildungsarbeit und in unserer Arbeitspraxis sichtbar und hörbar werden.  

Jaqui Steinberger: Genau. Ubuntu existiert zum Beispiel schon seit mehreren Jahrhunderten und ist nie verloren gegangen – das zeigt, wie mächtig das Konzept ist, dass es auch der Kolonialismus nicht geschafft hat, diese Denkweise auszulöschen. Das finde ich sehr inspirierend, dass es Wissensbestände gibt, die trotz der Ausrottung und Zerstörung überlebt haben und weitergetragen wurden, oft mündlich, durch Geschichten, Lieder oder andere Kunstformen.

BER: Was würdest du entwicklungspolitisch Engagierten mitgeben, die dekolonial arbeiten möchten?

Jaqui Steinberger: Zuhören – auch wenn es unbequem ist. Macht abgeben, Ressourcen teilen, kritisch hinterfragen, was als „normal“ gilt. Und sich von der Idee verabschieden, dass der Globale Norden die Lösung bringt. Es geht nicht um Entwicklung – es geht um globale Gerechtigkeit. Und um das Eingeständnis, dass wir im Globalen Norden genauso viel zu verlernen haben wie zu lernen.