Fußball-EM 2024 – Fluch oder Segen für die Stadtgesellschaft?
Interview mit Rico Noack von Gesellschaftsspiele zur Bedeutung der EM für die Stadt und ihre Vereinsarbeit
Berlin ist eine von zehn Städten, in denen die Fußball-Europameisterschaft vom 14. Juni bis 14. Juli 2024 stattfindet. Für die Akzeptanz solcher Großevents muss mittlerweile mit Begriffen wie Standortattraktivität, Investitionen, Mehrwert und Stadtrendite geworben werden, da das Image des kommerzialisierten Fußballs schlecht ist. Längst hat Berlin eigens ein Leitbild für Nachhaltigkeit zur Fußball-EM 2024 entwickelt.
Mit diesen Sportgroßevents beschäftigt sich das BER-Mitglied Gesellschaftsspiele e.V. Der Verein organisiert Bildungsarbeit und nutzt Fußball und Fankultur, um Antidiskriminierung, Teilhabe sowie globale Gerechtigkeit in der Stadt voranzutreiben. Rico Noack von Gesellschaftsspiele schätzt die Bedeutung der EM für die Stadt und ihre Vereinsarbeit ein.
Rico, Ihr kritisiert als Gesellschaftsspiele schon lange die Fußballindustrie und ihre entwicklungspolitsch problematischen Auswirkungen im Bereich Menschenrechte, Klimagerechtigkeit und Diskriminierung, insbesondere im globalen Kontext.
Ja, das liegt daran, dass der Weltfußballverband FIFA und das europäische Pendant UEFA sich bisher nicht durch Attribute wie Fairness, Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Teilhabe ausgezeichnet haben. Die Kritik an den großen Verbänden, die wir teilen, reißt nicht ab. Das BER-Mitglied Romero Initiative hat in der Broschüre: Sportindustrie – Moral im Abseits die menschenrechtlichen Auswirkungen der Profitorientierung in der Sportindustrie eindrücklich dargestellt. Es ist ein ziemlicher Erfolg der Fans, dass die Deutsche Fußball Liga (DFL) den Beschluss für den Einstieg externer Investoren im Profi-Fußball, als Schritt einer weiteren Kommerzialisierung, zurück genommen haben!
Gibt es aus Eurer Sicht auch Verbesserungen bei Großevents wie der Fußballeuropameisterschaft 2024?
Wir haben ein ambivalentes Verhältnis zu diesen Großevents und beobachten sehr genau, was sie bringen wird. Es gibt durchaus positive Impulse – abhängig vom politischem Setting und dem Willen verschiedener Entscheidungsträger*innen an den Austragungsorten, also in Berlin, Dortmund, Düsseldorf, Frankfurt, Gelsenkirchen, Hamburg, Köln, Leipzig, München, Stuttgart. Wir machen mit dem EM-Expertengremium des Berliner Senats gute Erfahrungen. Und die Stadt hat als Co-Veranstalter bereits zwei Jahre vorher ein Leitbild zur Nachhaltigkeit zur UEFA EURO 2024 veröffentlicht, das Maßnahmen in den Bereichen Ökologie, Soziales, Ökonomie und Governance einschließt. Wir sind gespannt, welchen sozialen und gesellschaftspolitischen Mehrwert die EM bringen wird, der sich über das Finale hinaus positiv auf unsere Stadt auswirkt.
Berlin kündigt im Nachhaltigkeits-Leitbild an, dass über den Fußball hinaus der Berliner Breitensport von der EURO 2024 profitieren soll. Wie schätzt Du das ein?
Es gibt Signale, die nicht nur symbolischer Natur sind und in die richtige Richtung gehen. Beim Landessportbund Berlin konnten im Vorfeld der EM sehr niedrigschwellig Projektmittel beantragt werden für umwelt- und klimagerechte Projekte, Projekte zur Förderung der Teilhabe, der Sportentwicklung, der Bildung für Nachhaltigkeit und Menschenrechte sowie für die Stärkung von Sozialstandards.
Insgesamt stellt der Berliner Senat eine Million Euro zur Verfügung. Aus zivilgesellschaftlicher Perspektive hätte diese Summe natürlich höher ausfallen können. Doch hat aus meiner Sicht die EM 2024 für die Berliner NGO-Landschaft bereits positive Impulse gesetzt: Beispielsweise konnte das Berliner Netzwerk Fußball und Gesellschaft gestärkt werden. Der Zusammenschluss von zwölf verschiedenen NGOs hat jetzt eine engagierte Hauptamtliche. Das Bündnis setzt sich für eine chancengleiche Gesellschaft ein, in der das soziale Potential von Fußball voll ausgeschöpft und anerkannt ist.
Doch natürlich stellen wir uns auch Fragen, wie die langfristige Wirkung wirklich sein wird, und vor allen Dingen, was dann während der EM alles stattfinden wird: Wird der Coca-Cola-Truck durch das Brandenburger Tor fahren? Welche Kröten müssen geschluckt bzw. verdaut werden? Es wird sicherlich eine Kehrseite geben. Das ist die Ambivalenz, die in unserer Arbeit existiert und die wir ständig diskutieren.
Welche Diskussionen wurden denn in der Berliner Zivilgesellschaft geführt – gibt eine “No-EM-Fraktion” und wie läuft der Diskurs in Hinblick auf die Olympischen Spiele 2036?
Es existiert keine nennenswerte „No-EM 2024“-Bewegung so wie es auch 2006 wenig Aktivitäten gegen die Weltmeisterschaft in Deutschland gegeben hat, wenn man vom Protest antinationaler Akteure und Teile der Linken absieht. Aus meiner Sicht hat das mit den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen im progressiven Milieu zu tun und mit einer Kritiklosigkeit gegenüber den Bedingungen, in denen des „Deutschen liebstes Hobby“ stattfindet. Dagegen wurde bei der Kampagne „Boycott Qatar 2022“ sehr kritisch nach Katar geschaut und das Mobilisierungspotential hierzulande war viel größer.
Olympia 2036 ist für mich ein anderes Thema. Allein die Jahreszahl wirkt so, als ob die Satirezeitschrift „Titanic“ hier ihre Finger im Spiel gehabt hätte. Nach meiner Erfahrung genießt das Projekt aus mehreren Gründen keine gesellschaftliche Akzeptanz: die Symbolik der Jahreszahl – 100 Jahre nach Olympia im Nazi-Deutschland -, zahlreiche Nachhaltigkeitsaspekte und die leeren Haushaltskassen.
Hat Gesellschaftsspiele Projekte oder Aktivitäten in Hinblick auf die EM 2024 in Berlin geplant?
Für uns begannen die Vorbereitungen im Herbst 2022 und im Sommer 2023 sind wir mit zwei Projekten gestartet, um auf gesellschaftliche Herausforderungen aufmerksam zu machen. In Hinblick auf die Geschlechterfrage veranstalteten wir im Projekt „Frauen im Fußball – Chancen und Herausforderungen“ ein Tagesseminar im Fanprojekt der Sportjugend.
Dafür arbeiteten wir mit der internationalen Organisation Girlpower zusammen, die Mädchen für den Fußballsport empowered und sich für gleiche Bedingungen einsetzt. Im Rahmen des zweiten Projektes „EM für Alle“ ermöglichen wir erfolgreich, dass Geflüchtete aus dem Wohnheim Marienfelde zur EM ins Stadium gehen können und gesellschaftspolitische Seminare sowie sonstige Fußballspiele gemeinsam besuchen. Für diesen Sommer planen wir mit dem Fanprojekt der Sportjugend weitere Veranstaltungen parallel zur EM 2024. Über die Aktivitäten werden wir auf Instagram und Facebook informieren.