Interview: Plädoyer für eine gelebte Kinderschutzpolicy
Alle im BER organisierten entwicklungspolitischen Vereine und Initiativen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, haben sich verpflichtet, eine vereinsspezifische Kinderschutzpolicy zu entwickeln. Sie beinhaltet Präventionsmaßnahmen gegen sexualisierte, physische und psychische Gewalt. (mehr Informationen hier sowie die Kinderschutzpolicy des BER) Wie Vereine eine solche Policy in der Praxis entwickeln können, dazu hat Mechtild Maurer im Mai 2023 den Workshop „Der Schutz von Kindern in der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit“ gegeben. Der Bedarf an Informationen zum Thema scheint groß zu sein.
Mechthild Maurer im Interview. Sie ist Kinderrechtsexpertin, Trainerin, Beraterin für die Themen sexualisierte Gewalt, Kinderschutz und Kinderrechte und Kinderhandel.
Warum braucht heutzutage jede Organisation, die für globale Gerechtigkeit im In- oder auch Ausland arbeitet, eine Kinderschutzpolicy?
Eine Policy zielt darauf ab, dass die Rechte von Kindern als Teil der Menschenrechte garantiert werden und dazu benötigt man Schutzstrukturen. Da wir aber mit Partnern im Globalen Süden mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, ist eine Kinderschutzpolicy wichtig, die zusätzlich lokal im Globalen Süden ihre Anwendung findet. Sie ist auch für Vereine sinnvoll, die kein explizites Kinderprojekt betreiben. Denn die vulnerable Gruppe ist immer vor Ort und es kann bei jedweder Projektarbeit zu Übergriffen oder einem Tatverdacht kommen. Darum braucht eigentlich jede Organisation entsprechende Strukturen und Präventionsmaßnahmen, ein Fallmanagement und einen Verhaltenskodex. Darüber hinaus machen Geldgeber*innen zunehmend eine Kinderschutzpolicy zur Voraussetzung für eine Förderung.
Was ist für die Vereine die größte Herausforderung, so eine Policy zu entwickeln?
Häufig wird die Entwicklung einer Policy als riesengroßer Berg verstanden, den es aus dem Stand ohne Vorbereitung zu erklimmen gilt. Oder andere möchten eine Art High-End-Produkt erhalten. Aber eine Kinderschutzpolicy ist keine Hochglanzbroschüre für die Schreibtischschublade. Vereine und Organisationen brauchen eher eine gelebte Kinderschutzrichtlinie. Es kommt also auf den Prozess an, in dem Prioritäten gesetzt werden und nicht alles gleichzeitig gemacht werden muss. Oft wird auch vergessen, an den Potentialen des Vereins oder der Organisation anzuknüpfen und sich zunächst anzuschauen, was innerhalb der Organisation bereits festgeschrieben wurde. Häufig gibt es schon Präventionsmaßnahmen beispielsweise zu Anti-Diskriminierung und Gender. Oder viele NGOs machen bereits Vorgaben im Bereich der Kommunikation, wenn Fotograf*innen in Projekte gehen, oder im Bereich der Evaluation bzw. der digitalen Medien. Auf diese Weise wird die Aufgabe der Policy-Entwicklung handhabbarer.
Wie kann man sich diesen Entwicklungsprozess konkret vorstellen?
Wenn alle sich zusammensetzen, dann lassen sich die Kompetenzen zusammenbringen und die Themen gut bearbeiten. Der/die IT-ler*in weiß wahrscheinlich, welche Gefahren im Bereich der digitalen Medien existieren. Ehrenamtliche, die im direkten Kontakt mit Kindern vor Ort arbeiten, können ihre Erfahrungswerte aus der Praxis einbringen. Eine Projektreferentin ist sich der Hürden bewusst, die im Bereich des Projektdesigns auftreten bzw. was erwartet wird.
Was verstehen Sie unter einer „gelebten Kinderschutzrichtlinie“?
Ich meine damit, dass eine Organisation sich in einem jährlichen Aktivitäten-Plan vornimmt, die Prozesse bzw. Maßnahmen stetig anzupassen und zu verbessern. Beispielsweise das Fallmanagement zu optimieren, also durchzugehen, wie die Organisation beim Verdachtsfall reagierte, wenn es zu einem Missbrauch in der eigenen Organisation gekommen ist oder wenn das Opfer der eigenen Organisation angehörte und ein Tatverdächtiger z.B. von außerhalb kam. Dabei lässt sich erkennen, was gut ist, was nicht funktioniert und wie die Policy verfeinert werden kann. Grundsätzlich geht man übrigens davon aus, dass eine Policy alle drei bis fünf Jahre überarbeitet werden muss.
Wieviel kostet so ein Prozess?
Von NGOs u.a. aus dem Globalen Süden wird seit langem vom BMZ gefordert, dass es für die Umsetzung einer Kinderschutzpolicy Ressourcen geben muss. Vor einigen Jahren wurden dazu auch Pilotprojekte durchgeführt. Dies sollte meines Erachtens weiter verfolgt werden. Es gibt in diesem Bereich sehr viel Luft nach oben. Doch ohne Druck von den entsprechenden Gremien und Facheinrichtungen gegenüber dem BMZ wird sich dies nicht zeitnah ändern. Also ein Kinderschutzkonzept, dass den aktuellen Qualitätsansprüchen genügen soll, lässt sich nicht zum Nulltarif bekommen. NGOs haben aber bereits die Möglichkeit, diese Kosten beim Projektantrag mit einzuplanen und sie bei Geldgebern einzufordern, die umgekehrt ein Kinderschutzkonzept verlangen. Das ist mehr als fair und ich denke, in diese Richtung könnte der Weg gehen.
Mechtild Maurer berät und schult zu Kinderrechten und Kinderschutz. Bis 2020 arbeitete sie als Geschäftsführerin der Kinderrechtsorganisation ECPAT Deutschland e.V. und brachte sich aktiv bei VENRO sowie beim Themennetzwerk Flucht der National Coalition Deutschland zu Kinderrechten ein. Für den BER führte sie im Mai 2023 das Seminar „Der Schutz von Kindern in der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit“ durch. Das Interview führte Eva Wagner, Referentin für Kommunikation beim BER.