Interview zu Mainstreaming Decolonize
Interview mit Sina Aping, Politische Referentin für Dekolonisierung der Entwicklungspolitik beim BER. Sie hat die neue Broschüre MAINSTREAMING DECOLONIZE! Koloniale Kontinuitäten in der Entwicklungspolitik redaktionell geleitet.
Die Publikationen des BER zu Rassismus und kolonialen Wurzeln der Entwicklungspolitik haben bereits viele Impulse in die entwicklungspolitische Zivilgesellschaft getragen – was leistet die neue Broschüre?
Die bisherigen BER-Broschüren tragen dazu bei, Rassismus in der Entwicklungspolitik und der eigenen entwicklungspolitischen Arbeit zu thematisieren. Mit der neuen Broschüre möchten wir unseren Leser*innen Dekolonisierung als entwicklungspolitische Strategie für eine machtkritische Aufarbeitung des Kolonialismus nahebringen. Alle Themen, Lebensrealitäten und Beziehungen in unserer entwicklungspolitischen Arbeit sind von Kolonialgeschichte geprägt. Kolonialismus muss zuallererst als umfassendes Unrechtssystem und Verbrechen verstanden werden.
„Mainstreaming Decolonize“ macht koloniale Kontinuitäten in globalen Zusammenhängen – wie rassistische Denk- und Handlungsmechanismen im Wirtschaftssystem oder der Gesundheitspolitik – sichtbar und zeigt auf, wie wir diese aufbrechen können. Mit der Broschüre reihen wir uns in die Kämpfe von BIPoC, migrantischen Selbstorganisationen, Schwarzen Communities, postkolonialen und entwicklungspolitischen Gruppen ein, die koloniale Kontinuitäten und Rassismus als globales Unrechtssystem analysieren. Unter diesem erweiterten Diskurs begreifen wir Dekolonisierung als Querschnittsaufgabe in allen Handlungsfeldern der Entwicklungspolitik.
Inwieweit kann sich darüber die Wahrnehmung von Wirklichkeit verändern?
Für mich ist wichtig zu betonen, dass es unterschiedliche Wirklichkeiten für BIPoC und weiße Menschen gibt und wir die Wahrnehmungen darüber schärfen müssen. Daran arbeiten BIPoC aus akademischen und aktivistischen Kreisen seit vielen Jahren, doch diese transformativen Prozesse brauchen Zeit. Eine Broschüre kann dazu einen kleinen Beitrag leisten.
Wie spiegelt sich dieser Ansatz in der Broschüre wider?
In „Mainstreaming Decolonize!“ kommen Personen aus unterschiedlichen Themenfeldern zu Wort, die sich mit Dekolonisierung bereits jahrelang auseinandersetzen, wie z.B. Prof. Dr. Maisha Auma, María do mar Castro Varela und Karim Fereidooni, Mauricio Pereyra, Tatu Hey, Susanne Schultz und Daniel Bendix, Anil Sha, Dr. Boniface Mabanza oder Josephine Apraku und Sinthujan Varatharajah. Einige Autor*innen schreiben über Wirksamkeiten von Kolonialität, von denen sie selbst negativ betroffen sind. Die Beiträge machen auch sichtbar, wie Widerstand gegen koloniale Ausbeutung geleistet wird.
Welche Wirkung erhoffst Du Dir mit Blick auf die entwicklungspolitische Arbeit?
Dass Kolonialismus nicht nur als historisches Thema wahrgenommen wird, das im öffentlichen Raum verhandelt wird oder, dass Dekolonisierung nur ein einzelnes entwicklungspolitisches Thema unter vielen ist. Der Kampf gegen die Abholzung des Amazonas ist auch ein anti-kolonialer Kampf, seitdem Lateinamerika kolonisiert wurde, die Industrialisierung und der wirtschaftliche Fortschritt der so genannten Industrieländer bauen auf der globalen Arbeitsteilung auf, die die Kolonialmächte im Kolonialismus mit Gewalt einführten. Der Umgang mit den „Trostfrauen“ ist ein Beispiel für Kolonialismus als weltweites System. Das zeigt, wie tief und wie lange schon globale Ungerechtigkeit in unserem System verankert ist. Deutschland und die Akteur*innen im Globalen Norden tragen Verantwortung, dass sich hier ein radikaler Wandel vollzieht.
Gleichzeitig darf der Begriff nicht zu einer leeren Worthülse verkommen oder instrumentalisiert werden. Dekolonisierung ist ein transformativer Ansatz, um eine gesellschaftliche Veränderung für mehr globale Gerechtigkeit zu erwirken. Im Idealfall bauen BER-Mitglieder und Leser*innen Dekolonisierungsprozesse in ihrer entwicklungspolitischen Arbeit ein.
Im Text wurden bestimmte Begriffe codiert, die die Grafiken bestimmten. Was steckt dahinter?
Für die Gestaltung der Broschüre haben wir mit der Agentur visual intelligence zusammengearbeitet und mit ihnen Kategorien entworfen. Sie repräsentieren *Widerstand, *Selbstbestimmung, *koloniale Verbrechen und *Verantwortungen. Die Markierung von Begriffen verwandelt die Broschüre in eine Kartografie, deren Themen miteinander verwoben sind. Inspiriert ist diese Herangehensweise von den Arbeiten des Schwarzen Soziologen, Historikers und Datenvisualisierers W.E.B. du Bois.
In den Texten werden Wörter benutzt, die durchgestrichen sind. Warum werden sie dann überhaupt benutzt?
Um die Leser*innen zu irritieren. Es handelt sich dabei um rassistische, stereotypisierende und re-traumatisierende Begriffe, die wir nicht weglassen können und möchten. Durch das Durchstreichen möchten wir die Leser*innen dazu anregen, über die jeweiligen Hintergründe zu reflektieren.