Rahmenlehrpläne demokratisieren
Interview mit Elke Weißer (EPIZ), Geschäftsführung und pädagogische Leitung
Damit das Globale Lernen und die Diversitätsorientierung gestärkt sowie mehr Wissensvermittlung über die koloniale Vergangenheit in schulische Bildung einfließt, diskutierten 70 Bildungsakteur*innen auf Initiative des Berliner Entwicklungspolitischen Ratschlags (BER) und Decolonize Berlin e.V. als Träger der Koordinierungsstelle für einen gesamtstädtischen Aufarbeitungsprozess zu Berlins kolonialer Vergangenheit. Sie kommentierten die Berliner Rahmenlehrpläne und offiziellen Gutachten für deren Weiterentwicklung der Fächer Geschichte, Geographie, Philosophie und Politik für die Oberstufe. Das EPIZ als Netzwerk des Globalen Lernens hat sich beteiligt und Geschäftsführerin Elke Weißer wünscht sich demokratische Lehrpläne.
Warum interveniert die entwicklungspolitische und dekoloniale Zivilgesellschaft in die Erstellung der wichtigsten Referenzdokumente für die Berliner Schulen?
Wir denken, dass wir in die Weiterentwicklung der Lehrpläne die wichtige Perspektive der Menschen einbringen müssen, die man die Nachkommen ehemals Kolonisierter nennt. Wir wollen es ernst nehmen mit der Aufarbeitung der kolonialen Verantwortung Berlins. Multiperspektivität ist unseres Erachtens ein guter Weg dafür, alle Bevölkerungsgruppen angemessen mitbestimmen zu lassen, welcher Wissenskanon in der Schule vermittelt wird. Denn wer sich und seine Geschichte wiedererkennt, identifiziert sich und fühlt sich zugehörig.
Aber muss eine demokratisch orientierte politische Bildung nicht neutral, also auch frei von externer Einflussnahme sein?
Der Paragraf 5 des Berliner Schulgesetzes ermöglicht die Kooperation mit außerschulischen Partner*innen. Das ist wichtig, damit man zum Beispiel in den Gesellschaftswissenschaften dem Beutelsbacher Konsens gerecht werden kann. Es geht darum, möglichst viele Perspektiven gleichberechtigt zu behandeln und gleichzeitig Überwältigung zu verhindern. Decolonize Berlin und Gruppen des BER können die wichtige dekoloniale Perspektive einbringen, die im Moment im Lehrplan noch nicht vorkommt. Damit wird der Unterricht in diesen Fächern dem Beutelsbacher Konsens, aber vor allem der heutigen gesellschaftlichen Situation gerecht.
Eine dekoloniale Kritik am Berliner Bildungssystem und ihren Referenzdokumenten ist also fundamentaler und geht über die bloße Ergänzung des Lehrinhalts zur Geschichte des (deutschen) Kolonialismus hinaus?
Ja, es geht um die Auswirkungen des Kolonialismus, die bis heute erheblichen Einfluss auf die Menschen im Globalen Süden und im Globalen Norden haben. Aber es gibt auch noch viele andere Perspektiven, die wir im Lehrplan berücksichtigen können und müssten.
Was ist denn darüber hinaus die konkrete Aufgabe der Zivilgesellschaft im Bildungssystem?
Die Nonprofit-Forschung beschreibt einen Dreiklang von Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft, die sich gegenseitig bedingen. Im Subsidiaritätsprinzip werden Aufgaben an die Zivilgesellschaft übertragen, die der Staat selbst nicht leisten kann. Zivilgesellschaftliche Organisationen haben damit einen hohen Stellenwert und wertvolle Expertise. Die Zivilgesellschaft hat demnach die wichtige Aufgabe Impulse zu setzen, sich einzumischen, mitzuwirken und damit korrigierend und regulierend auf die beiden anderen Bereiche einzuwirken.
In einem partizipativen Prozess, an dem vielfältige gesellschaftliche Gruppen und Akteure beteiligt werden, könnten Lehrpläne entstehen, die inklusiver, globaler und gerechter diejenigen Kompetenzen ausbildet, die zukünftige Generationen befähigt, sich Wissen anzueignen, partizipativ zu denken und gemeinschaftlich getragene Entscheidungen zu fällen. Dies wäre ein demokratischer Lehrplan.