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Mainstreaming Decolonize!
Koloniale Kontinuitäten in der Entwicklungspolitik

Die Reportage zur Publikation

Der Kolonialismus hat überall Spuren hinterlassen. Bis heute wirkt er als globale Ungerechtigkeit. Diese Reportage macht koloniale Kontinuitäten in vier Kapiteln beispielhaft sichtbar und zeigt Widerstand dagegen auf. Sie schärft den Blick für die Verschränkung mit dem Klimawandel und feministische Perspektiven.

Die Publikation baut darauf auf, die Kämpfe von migrantischen Selbstorganisationen, Schwarzen Communities, postkolonialen und entwicklungspolitischen Gruppen zusammenzudenken, koloniale Kontinuitäten und Rassismus als globales Unrechtssystem zu analysieren sowie Dekolonisierung als breiteren Ansatz von gesellschaftlicher Transformation weltweit zu begreifen.

Dekolonisierung, Kolonialismus & Postkolonialismus

Kolonialismus ist ein historisch gewachsenes globales System rassistischer Gewalt, Ausbeutung und Ungleichheit unter europäischer Vorherrschaft. Das „post-“ beschreibt nicht das Ende des Kolonialismus, sondern betont dessen fortwirkenden Einfluss auf die Gegenwart – und zwar sowohl in den ehemals kolonisierten Gebieten als auch in den Gesellschaften, die kolonisiert haben.

BIPoC – Black, Indigenous, People of Color

BIPoC umfasst Selbstbezeichnungen verschiedener Gruppen, die etwa von anti-Schwarzem oder anti-asiatischem Rassismus betroffen sind. Sie verweisen einerseits auf Prägungen im Kontext von Rassismus mit seiner Geschichte von Versklavung, Kolonisierung und Widerstand – andererseits eint sie die gemeinsame Erfahrung von strukturellem Rassismus. (BER)

Kolonialismus

Kolonialismus ist ein historisch gewachsenes globales System rassistischer Gewalt, Ausbeutung und Ungleichheit unter europäischer Vorherrschaft.

Dekolonisierung (BER)

Dekolonisierung benennt den Prozess, diese vielfältigen kolonialen Hinterlassenschaften abzubauen. (BER)

Dekolonialisierung

beschreibt den historisch formalen Prozess der sogenannten staatlichen Unabhängigkeit ehemaliger Kolonien, damit unterscheidet er sich von Dekolonisierung als andauernden Prozess der Veränderung. (BER)

Globaler Norden – Globaler Süden

Die Begriffe “Globaler Süden” und “Globaler Norden” beschreiben die historisch gewachsenen und gegenwärtigen Macht- und Unterdrückungsstrukturen auf globaler Ebene. Der Begriff Globaler Süden beschreibt Länder und Orte auf der Welt (zum Beispiel Länder in Afrika, Südostasien oder Süd- und Mittelamerika), die sich global betrachtet in einer politisch und wirtschaftlich benachteiligten Position befinden. Dieser Zustand ist auf die europäische Kolonialzeit und die damit verbundene Ausbeutung jeglicher Art zurückzuführen, die wiederum vom Globalen Norden (zum Beispiel Europa und die USA) ausgeht. Länder des Globalen Nordens befinden sich in einer privilegierten Machtposition und werden auch häufig als “westliche Welt” oder der “Westen” bezeichnet. Die Einteilung in Süd und Nord wird unabhängig von der geografischen Verortung verstanden, denn auch Australien zählt zum Beispiel zu den Ländern des Globalen Nordens. Die Bezeichnung Globaler Süden soll wertende und fremdbestimmte Ausdrücke für die besagten Länder ersetzen. (Laura Bechert, Shaylı Kartal, Dodo)

Intersektionalität

Im Wort Intersektionalität steckt das englische Wort „Intersection“, was auf Deutsch „Überschneidung“ oder „Kreuzung“ bedeutet. Der Begriff ist auf die Wissenschaftlerin und Juristin Kimberlé Crenshaw zurückzuführen.
Er macht deutlich, dass viele Menschen nicht nur entweder von der einen oder der anderen Diskriminierungsform betroffen sind, sondern unterschiedliche Formen sich gleichzeitig auswirken (können). Menschen können also zum Beispiel aufgrund ihres Alters, ihrer Hautfarbe und ihrer Geschlechtsidentität mehrfach diskriminiert werden. Bei der Diskriminierung von Menschen spielen verschiedene soziale Ungleichheiten bzw. Machtverhältnisse zusammen. Klassismus ist ebenfalls eine Form der Diskriminierung aufgrund der finanziellen, wirtschaftlichen benachteiligten Situation einer Person, die intersektional wirkt. (Laura Bechert, Shaylı Kartal, Dodo)

Mehrfachdiskriminierung

Hierbei handelt es sich um eine Diskriminierung aufgrund der Zuschreibung zu mehreren sozialen Gruppen. LSBTI können so Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung und / oder der geschlechtlichen Identität erfahren und darüber hinaus aufgrund anderer Faktoren. So kann eine Schwarze, lesbische Frau* Diskriminierung aufgrund rassistischer Zuschreibungen, aufgrund des Lesbischseins und aufgrund des Lesbischseins als Schwarze und als Frau* erleben. (LSVD)

Neokolonialismus

bezeichnet fortwirkende oder neue Formen von Abhängigkeit und Ausbeutung nach dem Ende des formalen Kolonialismus. Demnach werden ehemals kolonisierte Gebiete heute mit neokolonialistischen Mitteln indirekt von ehemaligen Kolonialmächten beherrscht, u.a. durch finanzielle (z.B. durch Kredite), aber auch politische, technologische, militärische oder kulturelle Abhängigkeiten. (NdM)

Rassifizierung

Rassifizierung (auch: Rassialisierung, Rassisierung) bezeichnet die Konstruktion von „Rassen“ durch Kategorisierung, Homogenisierung und Hierarchisierung von Menschen auf der Grundlage ausgewählter Merkmale wie Hautfarbe, Sprache oder Religion. Dem Merkmal wird eine existenzielle Bedeutung zugeschrieben und zugleich wird es als wesentliches Unterscheidungsmerkmal gegenüber anderen Gruppen begriffen. (RISE)

„Schwarz“ und „weiß“

„Schwarz“ wird nicht als biologistische Zuordnung verwendet, sondern bezeichnet eine politische und soziale Konstruktion. In Anlehnung an die Black-Power-Bewegung wurde die Bezeichnung „Schwarz“ zu einem Symbol für den Widerstand gegen Rassismus und verweist auf die Konstruktion von Hautfarbe als Differenzierungsmerkmal. Die Großschreibung weist auf eine Strategie der Selbstermächtigung hin. Auch weiß stellt ein soziales Konstrukt dar. Dennoch wird weiß klein geschrieben, um es von Schwarz und der darin eingeschriebenen Selbstermächtigung zu unterscheiden. Weiß wird kursiv gesetzt, um den konstruierten Charakter deutlich zu machen. Er markiert Personen oder Verhältnisse angesichts rassifizierter Vorstellungen als Macht ausübend und normgebend. Weiß kann auch eine kritisch positionierte Selbstbezeichnung sein, um diese in der Regel unbenannte aber privilegierte Positionierung weißer Menschen sichtbar zu machen. (BER)

Was hat der Kolonialismus mit Berlin zu tun? 
Nichts, oder? Berlin ist doch eine moderne weltoffene Metropole und der Kolonialismus ist längst Geschichte.

Nein,

Kolonialismus ist nicht mit der Unabhängigkeit kolonisierter Staaten beendet worden. Kolonialismus ist auch nicht einfach passiert. Bis heute hat die Ausbeutung der meisten Länder des Globalen Südens unter weißer europäischer Kolonialherrschaft ihre Spuren hinterlassen. Sie wirken bis heute als koloniale Kontinuitäten in der Stadt und auf dem Land, in Gemeinden und Nationen, global und international nach. Unser Wohlstand, auch in Berlin, baut auf kolonialer Ausbeutung von Menschen, Rohstoffen und der Natur auf. Die rassistische Ideologie galt als Legitimationsgrundlage und ist bis heute wirksam.

Warum trägt gerade Berlin bei der Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus eine besondere Verantwortung?

Berlin hat eine koloniale Vergangenheit: Bereits im 18. Jahrhundert hat Brandenburg-Preußen Schwarze Menschen vom afrikanischen Kontinent versklavt, von 1884 bis 1918 war Berlin das Zentrum der deutschen Kolonialpolitik. Kolonialmächte haben hier in Berlin auf der Afrikakonferenz willkürlich Grenzen zogen und den afrikanischen Kontinent unter sich aufgeteilt.

Yinka Shonibare: Scramble for Africa (2003)

„Yinka Shonibares Installation zwingt Besucher*innen zur körperbezogenen Auseinandersetzung mit der imperialistischen Praxis des Planens und Durchführens kolonialer Invasion und Ausbeutung. Sie ent-normalisiert die Praxis der Körper der somatischen Norm. Sie stellt sie nicht als erhaben, als in Kontrolle, in idealisierenden Posen dar, sondern als gierig, irrational und kopflos.“

Maisha Auma, Unpacking Privilege. Kolonialitätsgeprägte Strukturen transformieren. In: Mainstreaming Decolonize! Koloniale Kontinuitäten in der Entwicklungspolitik. BER (2022).

Bis heute können 30 Prozent der in Berlin lebenden Menschen nicht wählen, viel zu viele werden abgeschoben. In Bildungsinstitutionen gibt es rassistische Diskriminierung, es werden stereotype Afrikabilder in Schulbüchern vermittelt. Der BER  und seine Schwarzen, POC/ PAD- und migrantischen Verbündeten treiben den Dekolonisierungsprozess innerhalb des eigenen Netzwerkes selbst und in der Stadt Berlin voran. Dabei betrachten wir Dekolonisierung als breiten Ansatz gesellschaftlicher Transformation für mehr globale Gerechtigkeit.

Wie verortet sich der BER als entwicklungspolitischer Akteur?

Wir identifizieren uns als rassismus- und machtkritische Akteur*innen der Entwicklungspolitik, die über ein Bewusstsein verfügen, dass die koloniale Welteinteilung in den „Westen und den Rest“ nach wie vor wirkt und somit Ungleichheiten reproduziert. Wir sind uns der Ambivalenz bewusst, dass wir einerseits den Anspruch erheben, kritische Reflexion anzuregen und andererseits selbst in dem kolonialrassistisch geprägten System verankert sind und davon profitieren. Wir nutzen den Begriff „Entwicklungspolitik“, um diejenigen zu erreichen, die sich darunter verorten.

Sustainable Decolonizing Goals?

Die Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen blenden den Kolonialismus als Wurzel globaler Ungerechtigkeit aus. So ist der Abbau kolonialer Kontinuitäten auch kein Ziel der SDGs.

Serge Palasie, Koloniale Kontinuitäten als SDG-Bremse? Wurzeln globaler Ungerechtigkeit. In: Mainstreaming Decolonize! Koloniale Kontinuitäten in der Entwicklungspolitik. BER (2022).

Globale Schwesterlichkeit gibt es nicht

Wenn Entwicklungspolitik einem umfassenden feministischen Anspruch gerecht werden will, dann reicht es nicht, Gender-Mainstreaming als Grundsatz zu definieren und Frauen* und Mädchen zu priorisieren. Denn eine feministische Perspektive berücksichtigt nicht nur die Kategorie Geschlecht, sondern muss intersektional gedacht werden. Das heißt, die Arbeit für Geschlechtergerechtigkeit muss mit einer Kritik und Veränderung der Herrschaftsstrukturen des globalen Kapitalismus einhergehen, die zutiefst rassifiziert und vergeschlechtlicht sind.

Radwa Khaled-Ibrahim und Karoline Schaefer, Feminismus von oben. (Un-)Möglichkeiten feministischer Entwicklungspolitik.In: Mainstreaming Decolonize! Koloniale Kontinuitäten in der Entwicklungspolitik. BER (2022).

  • „SIE feiern in Weiß, WIR trauern in Schwarz“ – Protestaktion der NoHumboldt21-Kampagne zum NICHTFEST für das Berliner Humboldtforum im Lustgarten am 12.06.2015, Fotonachweis: Yusuf Beyazit
  • Jedes Jahr um den 23. August herum organisiert Decolonize Berlin das Amo-Fest an der ehemaligen M-Straße in Berlin Mitte, um für Dekolonisierung im öffentlichen Raum zu sensibilisieren. Fotonachweis: Tahir Della

  • Ein Beispiel für einen gelungenen Perspektivwechsel in der Berliner Erinnerungskultur: Aus der Wissmannstraße wurde die Lucy-Lameck-Straße. Anstelle eines Kolonialverbrechers wird eine der ersten weiblichen Abgeordneten im tansanischen Parlament gewürdigt. Fotonachweis: Regenbogenfabrik
  • Nach jahrzehntelanger Arbeit von afrikanischen, afrodiasporischen und entwicklungspolitischen Gruppen werden drei Straßen im Berliner Afrikanischen Viertel nach anti-kolonialen Widerstandskämpfern benannt. Hier die Cornelius-Fredericks-Straße. Fotonachweis: Joachim Zeller
  • 2009 wird nach langem zivilgesellschaftlichen Ringen ein Gedenkstein für die Opfer des Deutschen Kolonialismus neben einem viel größeren Gedenkstein für sieben gefallene deutsche Soldaten enthüllt – aber ohne den Genozid zu benennen. Das Ensemble soll auf Beschluss der BVV Neukölln (Februar 2023) neugestaltet werden, da es die Kolonialverbrechen verherrlicht. Fotonachweis: BER

  • Nach jahrelangen Diskussionen weihte der Bezirk Berlin Steglitz-Zehlendorf 2011 eine historische Informationsstele zur Lans-, Taku- und Iltisstraße ein, die Deutschlands Rolle beim Überfall auf China zu Beginn des 20. Jahrhunderts kritisch einordnet. Fotonachweis: Tahir Della
  • Die BER-Publikation „Stadt neu lesen – Dossier zu kolonialen und rassistischen Straßennamen in Berlin“ informiert über koloniale Namenspatrone und ihre Verbrechen, führt Umbenennungen in anderen Städten auf und unterbreitet Ideen für alternative Namensgeber*innen.

Comic „Widerstand. Drei Generationen antikolonialer Protest in Kamerun

Ob Wirtschaft, Bildung, Kultur oder Sprache: Koloniale Herrschaft zeichnete sich durch die gewaltsame Umstrukturierung aller Lebensbereiche aus. Die Nachwirkungen dieser Kolonialpolitiken sind in den Ländern des Globalen Südens bis heute spürbar. Doch so alt wie die europäische Expansion ist, ist auch der Widerstand dagegen. 

In Comics und Illustrationen skizziert das Buch drei Generationen antikolonialen Widerstands in Kamerun. Das zentralafrikanische Land war 35 Jahre lang eine deutsche Kolonie. Die Geschichten des kamerunischen Königs Douala Manga Bell, der Anlu-Rebellion der Kom Frauen sowie des Aktivisten Blaise André Essama ermöglichen historisches Lernen aus einer antirassistischen Perspektive.

connecting the dots – Der postkoloniale Zeitstrahl als Bildungsmethode

Es wird eine grobe Zeitachse ab dem Jahr 1500 auf dem Boden ausgelegt bis zu 12 Zitate an die Gruppe verteilt, bei denen Autor*innenangaben und Jahreszahlen fehlen. Die Zitate überraschen, schaffen Irritationen, hinterfragen Denkmuster, empowern. Etablierte Wissenssysteme werden in Frage gestellt und die Weiterbeschäftigung mit dem Thema angeregt.

Die Zeitstrahlmethode gibt es als E-Learning-Tool und kann auch mit Workshops vom BER-Mitglied glokal durchgeführt werden.

https://www.connecting-the-dots.org/zeitstrahlmethode/

Projekt zur Erbschaft Anton Wilhelm Amos (AWAE)

Das transnationale Bündnis Anton Wilhelm Amo Erbschaft (AWAE) ist eine Intervention. Sie vernetzt Initiativen, die sich für eine würdige Erinnerungskultur zu Amo einsetzen in Deutschland, Ghana, USA und Niederlande. AWAE steht für die Sichtbarkeit Schwarzer Menschen in Deutschland im Erinnerungsdiskurs sowie für den Zugang und die Anerkennung von indigenen, afrikanischen und afrodiasporischen Wissensbeständen. In Anlehnung an Amos emanzipatorischen Weg werden länderübergreifend dekoloniale Bildungsarbeit in Form von u.a. einer digitalen afrozentrischen Ausstellung, durch den Austausch auf schulischer und universitärer Ebene sowie mit aktiver Erinnerungskultur vorangebracht. Die AWAE ist ein Beispiel dafür, wie man als Gemeinschaft Positionierung, Machtdynamiken in der Geschichtsschreibung, Gender, Klasse undAlter betrücksichtigt, um Kolonial- aber auch Globalgeschichte lokal erzählen zu können und wie durch die Geschichten von Akteur*innen diverser Biographien, die in Berlin leben oder gelebt haben, globale Verflechtungen mitgedacht werden könnten.

Decolonize Berlin

Das Bündnis Decolonize Berlin setzt sich für die kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte und Gegenwart von Kolonialismus und Rassismus, für die Anerkennung und Aufarbeitung von kolonialem Unrecht und für eine gesamtgesellschaftliche Dekolonisierung ein.

Aus dem losen Bündnis Decolonize Berlin ist mittlerweile ein Verein geworden, der mit einer zivilgesellschaftlich getragenen Koordinierungsstelle einen Auftrag vom Land Berlin zur Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit der Stadt umsetzt. Bundesweit ist dies bisher einmalig.

Das Bündnis besteht aus Schwarzen, diasporischen, post-kolonialen und entwicklungspolitischen Gruppen in Berlin  und wird durch das Engagement von mehr als 100 Einzelpersonen unterstützt. Der BER ist ein Mitglied des Vereins und unterstützt die Arbeit.

Decolonize Berlin, aus: Dekolonisierung in der Berliner Stadtpolitik. Ein gesamtstädtisches Aufarbeitungskonzept Berlins kolonialer Vergangenheit. In: Mainstreaming Decolonize! Koloniale Kontinuitäten in der Entwicklungspolitik. BER (2022).