Vom Kinderschutz zum Kinderrechteschutz – Was sich an der Kinderschutzpolicy des BER ändert

Der BER überarbeitet seine Kinderschutzpolicy. Unterstützt wird der Prozess von Philip Meade (Trainer für Kinderrechte), der auch beim BER-Mitgliedsverein ProNATs arbeitet. Dazu haben wir mit ihm gesprochen.
aus dem BER-Newsletter 9 / Oktober 2025
BER: Die letzte BER-Kinderschutzpolicy wurde 2012/13 in einem langen Prozess erarbeitet. Was macht eine Überarbeitung notwendig?
Philip Meade: Die BER-Kinderschutzpolicy entstand zu einer Zeit des „traditionellen Kinderschutzes“. Dieser hat einige Mankos: Er behandelt Kinder als Objekte der Fürsorge, entmündigt sie allzu leichtfertig und verpasst hierdurch, sie zu empowern und ihren Selbstschutz zu aktivieren. Außerdem definiert dieser Kindesschutz körperliche, sexualisierte und psychische Gewalt sehr eng. Diskriminierende Diskurse, Institutionen und Strukturen sind dabei kaum im Blick und Diversität, Intersektionalität und Machtkritik werden vernachlässigt. Dabei machen diese Themen unterschiedliche gesellschaftliche Positionierungen von Menschen sichtbar, was unterschiedliche Schutzniveaus zur Folge hat. Zudem fehlt das spannungsreiche und sich schleunigst fortentwickelnde Feld des Internets und des Onlineschutzes. Der „traditionelle Kinderschutz“ landet schnell als verschriftlichtes und statisches Konzept in der Schublade, ohne dass es von den Mitarbeitenden gelebt, bei den Kindern bekannt oder gar gemeinsam weiterentwickelt wird.
Viele Mitgliederorganisationen des BER und Vereine in der entwicklungspolitischen Arbeit arbeiten nicht unmittelbar mit Kindern zusammen. Warum ist die Auseinandersetzung mit dem Thema trotzdem wichtig?
Weil die Organisationen, wenn nicht direkt dann indirekt, fast immer eine Wirkung auf Kinder und lokale bzw. globale Kindheiten haben. Dadurch tragen sie auch Verantwortung. Wenn meine entwicklungspolitische Spendenaktion eurozentrische Afrikabilder enthält, in denen Schwarze Kinder rassistisch stereotypisiert werden, oder das global-ökonomische Ungleichverhältnis nicht thematisiert wird, dann muss ich mir doch überlegen, wie das vermieden werden kann. Personen, die etwa mit Behörden arbeiten, sollten für gute Kindheiten sorgen, also zur Veränderung von strukturellen, institutionellen und rechtlich-politischen Rahmenbedingungen beitragen.
Ein wichtiger Aspekt Eures Ansatzes ist es, Kinder bei der Erstellung einer Policy zu beteiligen. Kritische Stimmen argumentieren, Kinderschutz sei Aufgabe der Erwachsenen. Was ist Deine Meinung?
Es stimmt, dass wir als Erwachsene Vorrechte und Machtvorteile haben. Deswegen sind wir gefordert, Ungleichheitszustände, zu denen wir beitragen, zu hinterfragen und entgegenzuwirken. Doch ohne die Perspektive der Kinder zu berücksichtigen, ist ein Schutzkonzept zum Scheitern verurteilt. Kinder sind Expert*innen ihres Lebens und kennen ihre Risiko- und Schutzfaktoren sehr gut. Es wird natürlich weiterhin die Auseinandersetzung mit Erwachsenenperspektiven geben müssen, die teilweise auf größere Erfahrungshorizonte und anderes (Fach‑) Wissen aufbauen. Aber was weiß ein in Berlin geborener Erwachsener schon besser als ein in einer Silbermine von Potosí arbeitendes Kind über dessen Leben? Wir Erwachsene müssen junge Menschen mit ihren Interessen, Erfahrungen und Kapazitäten als ebenbürtig anerkennen.
Dem digitalen Raum kommt beim Schutz von Kindern eine immer größere Bedeutung zu. Viele sagen, weil digitale Räum eine neue Dimension von Gefahren darstellen.
Ja, es gibt zwar Analogien zu privaten und öffentlichen Räumen, aber in digitalen Räumen haben sich tatsächlich neue Gefahren entwickelt, die noch vor wenigen Jahrzehnten undenkbar waren: Cybermobbing, Fake News, Echokammer, Überwachungsmaßnahmen, Cybergrooming, gewaltverherrlichende Inhalte, Privatsphärenverletzung, Abzocke und Betrug, Datenmissbrauch, digitale Erpressung, exzessive Mutproben, Ewiges erinnern, die Liste ließe sich unendlich fortsetzen. Mit künstlicher Intelligenz kommen gerade ganz neue Fragen auf uns zu.
Globale oder regionale Krisen wie Kriege oder Klimakatastrophen wirken sich auf das Leben von Kindern aus. Ist der Schutz von Kindern heute wichtiger denn je – sind Kinder heute mehr gefährdet als noch vor 100 Jahren?
Vor 100 Jahren hatten Kinder in Mitteleuropa weniger Rechte als Haustiere, sie durften ganz legal geschlagen und „gezüchtigt“ werden. Während der Menschheitsgeschichte gab es immer wieder Aufs und Abs in der Behandlung von Kindern – diese waren abhängig von Ort, Kontext und Gruppenzugehörigkeit der jeweiligen Kinder. Allgemein kann man also keine lineare Entwicklung in eine bestimmte Richtung feststellen. Doch gibt es immer wieder spezifische Formen von Gefährdung, die sich auf Kinder auswirken. Der Soziologe Aladin El-Mafaalani beklagt zum Beispiel aktuell, dass Kinder in Deutschland immer mehr zur „Minderheit ohne Schutz“ werden und die junge Generation politisch übersehen und gesellschaftlich vernachlässigt wird.
Wie soll sich die neue Kindesschutzpolicy des BER von der bisherigen unterscheiden?
Ein Perspektivwechsel vom Kinderschutz zum Kinderrechteschutz wäre gut. Der Kinderrechteschutz respektiert Kinder als Subjekte, stärkt sie als aktive Träger*innen eigener Rechte, stellt das Kindesinteresse sowie die Interessen von Kindern und Jugendlichen als soziale Gruppe in den Mittelpunkt und weist einen Diskriminierungsschutz auf. Die auch in Deutschland gültigen UN-Kinderrechte, die sich grob in sich gegenseitig ergänzenden Schutz-, Förder- und Beteiligungsrechte einteilen lassen, können dabei als zentrale Leitlinie dienen. Sie sollten aber um machtkritische Aspekte erweitert werden. Ein erweitertes Gewaltverständnis sowie ein intersektionaler Zugang zu Diskriminierung ist hier vonnöten. Dies geht einher mit einem Umdenken der Rollen der verantwortlichen Erwachsenen, hin zu Kollaborateur*innen und Verbündeten.
Sollten Kinderschutzkonzepte in der Förderung verpflichtend werden? Kann eine Kinderschutzpolicy vielleicht auch als Qualitätsmerkmal für Organisationen gelten?
Da Kinderrechte kein „nice to have“, sondern eine von Staaten wie Organisationen zu garantierende Leistung sind, müssten auch Kinder(rechts)schutzkonzepte immer verpflichtend sein. Als Qualitätsmerkmal können sie erst dienen, wenn sie nicht in der Schublade landen, sondern von den Verantwortlichen als ethische Grundhaltung gelebt werden, sich die Organisationen lernfähig zeigen und ihre Kultur sowie ihre Strukturen fortlaufend partizipativ weiterentwickeln.
Hinweise, Informationen und Anregungen beim Prozess im BER-Netzwerk gibt Sabine Seiffert, BER-Referentin Globales Lernen, unter seiffert@eineweltstadt.berlin
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UN-Kinderrechtskonvention im Wortlaut: https://www.kinderrechte.de/kinderrechte/un-kinderrechtskonvention-im-wortlaut
Website des Soziologen Aladin El-Mafaalani