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Einführung: Straßen umbenennen jetzt!

Dekolonisierung als Demokratisierung des öffentlichen Raumes

Chancen fürs Miteinander

Die in diesem Dossier zusammengetragenen Informationen zur Geschichte und Gegenwart von Kolonialismus, Widerstand und Gedenken in Berlin verstehen sich als Beitrag zur Dekolonisierung der Stadt. Im Folgenden soll es darum gehen, die vielfältigen Spuren einer Gewaltgeschichte im Stadtbild sichtbar zu machen, von deren Fortwirken alle Alt- wie Neuberliner_innen – täglich, wenn auch häufig unbemerkt – profitieren. Straßennamen bieten Orientierung nicht nur in der Stadt, sondern auch in der Geschichte. Was jedoch für die einen ein harmloser Teil des Alltags ist, ruft bei den anderen die verwobene Geschichte und Gegenwart von Ausbeutung, Vertreibung, rassistischer Herabwürdigung und Massen- oder gar Völkermord in Erinnerung. In dieser gewalttätigen Gleichzeitigkeit liegt jedoch auch eine Chance: Sie bietet die Möglichkeit, Geschichte aus der Perspektive der ehemals Kolonisierten sowie derjenigen, die auch von Berlin aus Widerstand geleistet haben, wahrzunehmen, und dadurch zu einem neuen Verständnis der Verwobenheit, zu einer neuen Sicht auf die geteilte Geschichte und die Gegenwart zu gelangen.

Die Erinnerung an diese Geschichte und ihr Fortwirken wird in Berlin immer vielfältiger: Menschen mit diasporischen Bezügen zu ehemals kolonisierten Gebieten leben seit über dreihundert Jahren in Berlin, sie sind Alteingesessene ebenso wie Neuberliner_innen – und sie leben vielfältige Erinnerungskulturen, die ebenso Teil des Berliner Gemeinwesens sind wie die offiziell ins Stadtbild eingeschriebenen Formen des Gedenkens. Berlin lässt sich als eine Polyphonie vielstimmiger Erinnerungen verstehen. Diese unterschiedlichen  Erinnerungskulturen sichtbar zu machen, ist ein notwendiger und längst überfälliger Beitrag zur Demokratisierung des öffentlichen Raumes.

Neu erinnern

Wie an wenigen anderen Orten in Deutschland konzentrieren und überlagern sich in Berlin Schichten der deutschen Geschichte. Nicht zuletzt durch Gedenkakte im öffentlichen Raum wie die Errichtung von Gedenktafeln, Denkmälern und vor allem Straßenbenennungen wird das gegenwärtige Selbstverständnis der Hauptstadt, ihrer Bezirke und Bewohner_innen in den  öffentlichen Raum und das öffentliche Bewusstsein eingeschrieben. Viele Aspekte der von Berlin ausgegangenen NS-Gewaltherrschaft werden inzwischen durch Kontrapunkte wie die Benennung des Guernicaplatzes inmitten der Spanischen Allee, die Informationstafeln zum vom NS-Regime fast ausgelöschten jüdischen Leben im Bayrischen Viertel, das Denkmal für die ermordeten Sinti- und Roma Europas und viele weitere öffentliche Gedenkstätten kritisch beleuchtet. Zur demonstrativen Neubewertung vergangener Diktaturen in Berlin gehörte eine  Reihe von Straßenumbenennungen nach 1945 und nach 1990 – das Berliner Gemeinwesen sollte Mitwirkende der nun diskreditierten NS- und SED-Regime nicht länger im Stadtbild ehren. Stattdessen wurden vielfach Menschen geehrt, die Widerstand gegen die von der Hauptstadt aus geplanten Unrechtsregime organisiert hatten. So sollte das neue, demokratische Selbstverständnis mitsamt einer kritischen Neubewertung der deutschen Diktaturen alltagsnah erfahrbar werden.

Für die Spuren der Berliner Beteiligung am transatlantischen Versklavungshandel und am europäischen Kolonialismus steht eine solche kritische Distanzierung noch weitgehend aus. So finden sich im Stadtbild immer noch zahlreiche positive Bezugnahmen auf diese Aspekte deutscher Gewaltgeschichte. Die Berliner Stadt- und Erinnerungslandschaft ist vom  brandenburgisch-preußischen Versklavungshandel (ab 1680), vom kaiserlich-deutschen Kolonialreich (ab 1884) sowie vom positiven Rückbezug auf diese in der NS-Zeit mitgeprägt. Es ist bezeichnend, dass gerade die Kolonialpropaganda des NS-Regimes bis heute im Berliner Stadtbild teils ungebrochen fortwirkt.

Dieser Umgang offenbart die Orientierungslosigkeit im Umgang mit kolonialen Kontinuitäten. Die antidemokratische und menschenverachtende Ausrichtung der kolonialen Idee, auf deren
rassistische Legitimationsversuche sich die Nationalsozialisten explizit zurückbezogen, aber auch das gegenwärtige Fortwirken kolonialer Gewalt machen daher eine kritische  Auseinandersetzung mit Straßennamen mit kolonialem Bezug, mit der Geschichte, an die sie erinnern, sowie mit dem historischen Kontext ihrer Benennung unumgänglich.

Verwobene Geschichten erzählen

In Berlin lässt sich am Gedenkraum Stadt ablesen, dass und wie die Geschichte der Versklavung, des Kolonialismus und des NS-Regimes zusammenhängen: 1894, in der Hochphase des deutschen Kolonialismus, wurde Otto Friedrich Wilhelm von der Gröben, der im Auftrag des großen Kurfürsten durch das Errichten des Versklavungsforts »Groß-Friedrichsburg« in den 1680ern die materiellen Grundlagen für den brandenburgischen Versklavungshandel gelegt hatte, mit einem Straßennamen geehrt. Auch die Nationalsozialisten ehrten ihn – wie auch den im Berliner Wedding mit der Petersallee gewürdigten Kolonialverbrecher Carl Peters – als »großen Deutschen« und »Kolonialbegründer«. Die Tatsache, dass der von Peters mitbegründete »Alldeutsche Verband« bereits zur Kolonialzeit rassistisches und antisemitisches Gedankengut verbreitete, verweist auf die Verwobenheit dieser oft getrennt betrachteten Aspekte deutscher Geschichte. Auch die vielen persönlichen, politischen, medizinhistorischen und ideologischen Verbindungslinien, die von den ersten offiziell so bezeichneten deutschen Konzentrationslagern im heutigen Namibia zur Vernichtungspolitik des NS-Regimes führen, machen die Vorgeschichte dieser Gräuel deutlich.

So entfalten sich im »Afrikanischen Viertel« im Berliner Wedding anhand von Straßennamen, die ab den 1890 er Jahren vergeben wurden, alle genannten Bezüge. Die im Stadtraum ablesbare Verflechtungsgeschichte macht auch deutlich, dass ein historisch informiertes Aufzeigen dieser Bezüge nichts mit einer vermeintlichen Opferkonkurrenz oder einer Nivellierung der gemachten Erfahrungen von Vertreibung und Genozid zu tun hat. Diese können im Gegenteil nur dann in ihrer historischen Entwicklung und ihrer globalen Dimension erfasst werden, wenn auch ihre verwobenen Vorgeschichten erzählt und erinnert werden.

Verbindungen aufzeigen ohne gleichzusetzen

Das Aufzeigen dieser Verbindungslinien und die Einladung, sie im Stadtraum nachzuvollziehen, treffen häufig auf den Unwillen, die Wertgrundlagen, die für eine kritische Bewertung des Nationalsozialismus selbstverständlich herangezogen werden, auch auf andere von Deutschland und Europa ausgegangene, rassistisch legitimierte Verbrechen (koloniale Landnahmen, Plünderungen, Massenvertreibungen und Völkermorde) anzuwenden. Doch wie ernst die für den NS herangezogenen Bewertungsmaßstäbe, insbesondere das Anerkennen und die Verurteilung rassistischer Massenmorde, ein umfassendes Gedenken, symbolische und materielle Entschädigungen, die öffentliche Dokumentation und Auseinandersetzung mit den Gräuel tatsächlich genommen werden, zeigt sich nicht zuletzt auch darin, ob sie selektiv angewandt werden oder nicht.

Immer mehr Berliner_innen können und wollen dieses Messen mit zweierlei Maß nicht mehr nachvollziehen. In vielen Familien verbinden sich die Geschichten und Erinnerungen an die Nürnberger Gesetze und Kolonialgesetzgebung, an NS-Verstrickungen und Kolonialgräuel Aber auch für Menschen ohne diese Bezüge weitet sich zunehmend der historische Blick zu einer Perspektive der longue duree, der langen historischen Zeiträume, für die der Historiker Fernand Braudel Mentalitäten als »Gefängnisse von langer Dauer« beschreibt. Aus dieser  Perspektive wird eine simple Gleichsetzung der NS-Verbrechen mit Kolonialgewalt ebenso abgelehnt wie das Beharren auf einer historisch unverbundenen und ahistorischen Einzigartigkeit des NS-Regimes. Die Einzigartigkeit der Leidenserfahrung eines jeden Genozids und einer jeden kollektiven Vernichtungserfahrung ist der simplen Gleichsetzung unwürdig gleichzeitig gehört es zum verantwortungsvollen und respektvollen Gedenken, die Verbindungslinien, die sich von der Kolonialzeit ins NS-Regime ziehen, wahrzunehmen. In Zeiten, in denen Rassismus salonfähig wird, sobald dem Nationalsozialismus formelhaft abgeschworen wird (»Ich bin zwar kein Nazi / kein Rassist, finde aber…«), wird deutlich, dass nur eine solche differenziert geweitete, dekolonisierende Perspektive in der Lage ist, erstarkenden menschenfeindlichen Tendenzen entgegenzutreten. Eine aktive, multiperspektivische Erinnerungspolitik leistet dazu einen wichtigen Beitrag.

Vorschriften und Verpflichtungen

Den rechtlichen Rahmen für die Umbenennungen von Straßen, die Kolonialaggressoren ehren oder rassistischen Sprachgebrauch im öffentlichen Raum fortschreiben, bieten die Ausführungsvorschriften zu §5 des Berliner Straßengesetzes. Dort heißt es unter Artikel 2 (Umbenennungen), Absatz 2, dass Umbenennungen zulässig sind

»zur Beseitigung von Straßennamen

1. aus der Zeit von 1933 bis 1945, sofern die Straßen nach aktiven Gegnern der Demokratie und zugleich geistig-politischen Wegbereitern und Verfechtern der nationalsozialistischen Ideologie und Gewaltherrschaft oder aus politischen Gründen nach Orten, Sachen, Ereignissen, Organisationen, Symbolen o. ä. benannt wurden. […]
3. aus der Zeit vor 1933, wenn diese nach heutigem Demokratieverständnis negativ belastet sind und die Beibehaltung nachhaltig dem Ansehen Berlins schaden würde.«

Die Ehrung von Menschen, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben, reinszeniert koloniale Gewalt als ehren(s)wert und legitimiert so jene Gräueltaten, die die Familiengeschichten einer wachsenden Anzahl von Berliner_innen und Berlinbesucher_innen geprägt haben. Dass diese Gewalterfahrungen auch Berlin mitgeprägt haben, steht außer Frage – wie dies kritisch im Stadtraum sichtbar werden kann, muss Gegenstand politischer Aushandlungen sein. Klar ist: Die unkritische Ehrung von Kolonialakteuren und die Normalisierung
von rassistischer Sprachgewalt in der Öffentlichkeit schaden dem Ansehen Berlins.

Die Bundesrepublik Deutschland hat sich 2001 durch die Ratifizierung der Abschlusserklärung der Durbaner UN-Weltkonferenz gegen Rassismus klar zur Einschätzung von Versklavung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und von Kolonialismus als Unrecht mit bis heute anhaltenden Fortwirkungen bekannt. Im Abschnitt zu Quellen, Ursachen und Erscheinungsformen von Rassismus heißt es dort:

»13. Wir erkennen an, dass die Sklaverei und der Sklavenhandel, namentlich der transatlantische Sklavenhandel, furchtbare Tragödien in der Geschichte der Menschheit waren, nicht nur wegen ihrer entsetzlichen Barbarei, sondern auch wegen ihres Ausmaßes, ihres organisierten Charakters und insbesondere der Aberkennung des Menschseins der Opfer, und erkennen  ferner an, dass Sklaverei und Sklavenhandel ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind und zu allen Zeiten als solches hätten gelten sollen, insbesondere der transatlantische Sklavenhandel, und dass sie zu den Hauptursachen und -erscheinungsformen des Rassismus […] zählen und dass Afrikaner und Menschen afrikanischer Abstammung, Asiaten und  Menschen asiatischer Abstammung sowie indigene Völker Opfer dieser Handlungen waren und nach wie vor Opfer ihrer Folgen sind;

14. Wir erkennen an, dass der Kolonialismus zu Rassismus […] geführt hat und dass Afrikaner und Menschen afrikanischer Abstammung, Menschen asiatischer Abstammung sowie indigene Völker Opfer des Kolonialismus waren und nach wie vor Opfer ihrer Folgen sind. Wir erkennen das Leid an, das durch den Kolonialismus verursacht wurde, und erklären, dass der Kolonialismus, wo und wann immer er aufgetreten ist, verurteilt und sein erneutes Auftreten verhindert werden muss. Wir bedauern ferner, dass die Auswirkungen und das Fortbestehen dieser Strukturen und Praktiken zu den heute in vielen Teilen der Welt fortdauernden sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten mit beigetragen haben.«

Die Tragweite dieser Einschätzungen macht noch einmal deutlich, warum eine Beibehaltung von Straßennamen, die Menschen für ihre Beteiligung an Versklavung und Kolonialismus ehren, dem Ansehen Berlins schadet. Gerade in der Bundeshauptstadt sollte das in der Abschlusserklärung zum Ausdruck gebrachte Verständnis Grundlage einer Dekolonisierung des öffentlichen Raumes sein.

Perspektivwechsel als Chance

Die Initiator_innen dieses Dossiers setzen sich für einen kritischen Umgang mit der kolonialen Vergangenheit und ihrer gegenwärtigen Präsenz im Berliner Stadtbild ein. Dazu hat das zivilgesellschaftliche Aktionsbündnis »Straßeninitiative« bereits 2008 über 70 solcher Benennungen recherchiert und im Dossier des Berliner Entwicklungspolitischen Ratschlags (BER) »Straßennamen mit Bezügen zum Kolonialismus in Berlin« zugänglich gemacht. Die vorliegende Neuausgabe aktualisiert dieses Dossier.

Dabei gibt es bei 10 Berliner Straßennamen besonderen Handlungsbedarf: Sie ehren Personen, die für koloniale Verbrechen mitverantwortlich sind und müssen daher umbenannt werden. Bei 24 weiteren Straßen fordern wir eine kritische Kommentierung, die den kolonialen Bezug ihrer Benennung sichtbar macht. Bezüge zum Kolonialismus werden dabei nicht aus dem  Stadtbild getilgt, sondern aus anderen Blickwinkeln erfahrbar.

Bei den Umbenennungen soll der Bezug zur Kolonialzeit beibehalten, aber die Perspektive der Erinnerung umgekehrt und bisher unbeachtete Aspekte der Kolonialgeschichte, insbesondere der Widerstand gegen die Kolonialmächte und gegen rassistische und koloniale Strukturen, ins kollektive Bewusstsein getragen werden. Die Ergänzung alternativer Namensvorschläge in vorangegangenen Ausgaben dieses Dossiers sollte sicherstellen, dass der kolonialgeschichtliche Bezug der Straßen gewahrt bleibt. Gleichzeitig sollte der Fokus der Erinnerung an diese geteilte Geschichte zu denjenigen hin verschoben werden, die in unterschiedlicher Form in den von kolonialer Gewalt berührten Gebieten und Gemeinschaften, aber auch in Berlin  antikolonialen Widerstand geleistet haben. Auch diese Vorschlagsliste wurde für das vorliegende Dossier überarbeitet. Der hier geforderte Perspektivwechsel vermeidet, dass bei Umbenennungen die Kolonisierten weiterhin in einem anonymen, passiven Opferstatus gefangen bleiben.

Schließlich gibt es weitere Straßen in Berlin, die geistige und politische Wegbereiter des Kolonialismus ehren, deren koloniale Aktivitäten in einem gesamtstädtischen Konzept der kritischen Aufarbeitung des Kolonialismus betrachtet werden müssen. Es handelt sich dabei um Personen wie Otto von Bismarck (1815 – 1898), der als Reichskanzler die europäischen Großmächte und die USA zur Afrika-Konferenz nach Berlin einlud, bei der über die Aufteilung Afrikas unter den europäischen Kolonialmächten verhandelt wurde und der selbst verantwortlich für die Kolonisierung von Togo, Kamerun, »Deutsch-Südwestafrika« (heutiges Namibia), »Deutsch-Ostafrika« (heutiges Tansania, Ruanda, Burundi), »Kaiser-Wilhelms-Land« (heutiges Neu-Guinea) und dem Bismarckarchipel war. Auch Konrad Adenauer ist hier zu nennen, da er von 1931 bis 1933 Vizepräsident der Deutschen Kolonialgesellschaft war.

Ebenso waren die preußischen Philosophen Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel geistige Wegbereiter des Kolonialismus, weil sie Versklavung und Kolonialismus mit ihren rassistischen Positionen rechtfertigten. Zu dieser Gruppe gehören auch Wissenschaftler wie Rudolf Virchow, der die in den Kolonien vorgenommene Aneignung zahlreicher menschlicher Gebeine zu verantworten hat, die er für rassistisch-anthropologische Forschung verwandte oder auch Robert Koch, der in den Kolonien menschenverachtende medizinische Studien durchführte. Dazu zählen Personen, die wie Alexander von Humboldt durch Forschung und Grabraub im Rahmen von Expeditionen dazu beigetragen haben, das Wissen der Kolonisatoren über die Kolonisierten und ihre Ressourcen zu erweitern, und so deren systematische Ausbeutung ermöglichten.

Es hätte den Rahmen dieses Dossiers gesprengt, all diese Wegbereiter des deutschen Kolonialismus zu listen. Wie sie in konkreten Dekolonisierungspraxen berücksichtigt werden, müssen Engagierte und Initiativen vor Ort entscheiden.

Wenn das aktive und emanzipative Moment von Widerstand geehrt wird, werden damit von Kolonialismus und Rassismus Betroffene als Subjekte anerkannt und in ihrem Kampf für eine andere Gesellschaftsordnung gewürdigt. Bisher zu wenig beachtete Aspekte und Akteur_innen der geteilten Kolonialgeschichte werden so im Alltag, in der Lebenswelt der Berliner_innen sichtbar – also genau dort, wo bis heute koloniale Kontinuitäten, aber auch die Errungenschaften antikolonialen Widerstandes und eigensinniger Selbstbehauptung der Kolonisierten häufig unbemerkt den Alltag prägen. So wird erfahrbar, dass die Geehrten durch ihren Widerstand zu dem umfassenden Verständnis von Freiheit beigetragen haben, dass wir gegenwärtig  umzusetzen versuchen.

Viele der infrage stehenden Straßennamen sind seit Jahren in der Kritik: Aus afrikanischer und Schwarzer deutscher Perspektive, aus postkolonialer Theorie und Praxis, durch  antirassistische und entwicklungspolitische Initiativen, aus der Perspektive von Flüchtlingsselbstorganisationen sowie aus der Perspektive der Critical Whiteness Studies weisen Expert_innen auf den Handlungsbedarf beispielsweise hinsichtlich des rassistischen Namens »Mohrenstraße «hin und fordern die Bezirkspolitik zur Umbenennung auf (siehe dazu den Abschnitt zu »Mohrenstraße«).

Menschenrechte statt Mehrheitsvorbehalt

Die öffentlichen Diskussionen und Kontroversen um die Umbenennung kolonialer Straßennamen sind ein wichtiger Teil des Dekolonisierungsprozesses. Denn eine umfassende Hinterfragung der Gewaltgeschichte, die Europa, Deutschland und Berlin in Beziehung setzt mit Regionen und Menschen in und aus Afrika, Asien und Südamerika ist nur möglich, wenn das dazu in der  Stadt vorhandene Wissen über die historischen Zusammenhänge eine breite Öffentlichkeit erreicht. Wie sie dann aber dort verhandelt werden, ist nicht nur eine Frage von Meinung und Gegenmeinung, die sich dann in einem demokratisch vermittelten Kompromiss einander annähern. Denn hier geht es um die Frage der Anerkennung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit – diese lässt sich schwerlich unter einen Mehrheitsvorbehalt stellen oder in einer »Kompromisslösung« umsetzen. So werden Debatten um Straßenumbenennungen zu einer Chance, das in gelebter Demokratie grundlegende Verständnis für die Grenzen einer (vermeintlichen) Mehrheitsmeinung auf den Stadtraum Berlins anzuwenden. Der öffentliche Raum stellt all denjenigen, die in ihm die genannten Spuren erkennen können, an vielen Orten eine eindringliche Frage: Wie kann die geteilte Geschichte erinnert, wie die daraus erwachsene  Gegenwart hinterfragt werden, ohne dass die historische und gegenwärtig fortwirkende Gewalt unbedacht reproduziert wird?

Die Antwort ist in der Idee des »heutigen Demokratieverständnisses« angelegt: Debatten um den Umgang mit kolonialen Spuren in Berlin müssen kontrovers geführt werden – ohne jedoch den demokratischen Rahmen zu verlassen. Wenn Kolonialismus im Sinne obiger Deklaration mit dem heutigen Demokratieverständnis unvereinbar ist und »zu Rassismus […] und damit  zusammenhängender Intoleranz geführt hat«, kann die Mehrheitsmeinung der Anwohner_innen von Straßen, die Kolonialverbrecher ehren, kein Grund dafür sein, eine Umbenennung zu verweigern.

Feierliche Umbenennung des Gröbenufers in May-Ayim-Ufer am 27.2.2010.

Auf der Gedenkstele ist folgender Text abgedruckt (mit englischer Übersetzung):

May-Ayim-Ufer früher Gröbenufer Diese Straße ist nach May Ayim, geb. 1960 in Hamburg, gest. 1996 in Berlin-Kreuzberg, benannt. Die Wissenschaftlerin, Autorin, Pädagogin und Aktivistin der Schwarzen Bewegung in Deutschland hat in ihrem wissenschaftlichen, literarischen und politischen Werk das Fortbestehen von kolonialen Überlegenheitsvorstellungen und Rassismus aufgezeigt. May Ayim, Tochter einer deutschen Mutter und eines ghanaischen Vaters, beschrieb rassistische Phänomene, die vom deutschen Kolonialismus über die Zeit des  Nationalsozialismus bis heute fortwirken. Damit gab sie wichtige Anregungen zur Auseinandersetzung mit diesen Bestandteilen deutscher Geschichte und Gegenwart. Deren Manifestation im Alltagsrassismus, aber auch in kolonialen Straßennamen, hat Ayim vielfach kritisiert.
Sie war Gründungsmitglied der »Initiative Schwarze Menschen in Deutschland« (ISD) und maßgeblich an der Prägung und Einführung der Selbstbezeichnung »afrodeutsch« beteiligt.

Von 1895 bis zur Umbenennung im Jahre 2010 hieß diese Straße »Gröbenufer«. Sie war nach dem Major Otto Friedrich von der Gröben (1657 – 1728) benannt, der im 19. und bis ins 20. Jahrhundert als deutscher Kolonialpionier geehrt wurde. Mit der Straßenbenennung würdigte Kaiser Wilhelm II. in der Hochphase des deutschen Kolonialismus von der Gröben als »ersten Brandenburgischen Colonial-Gouverneur« und »Erbauer der Feste Gross- Friedrichsburg an der Küste von Guinea« im heutigen Ghana (Quelle: Geheimes Staatsarchiv).

Von der Gröben hatte Groß-Friedrichsburg im Auftrag des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg errichten lassen. Das Fort diente zwischen 1683 und 1717 als Stützpunkt für Handel und für die organisierte Verschleppung von versklavten afrikanischen Männern, Frauen und Kindern nach Amerika und Europa. Sklavenhandel ist nach der UN-Resolution von Durban (2001) ein »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«, das »zu allen Zeiten als solches hätte gelten sollen«. Kolonialismus hat zu Rasssismus, zu Diskriminierung von Menschen aufgrund ethnischer Verschiedenheiten, zu Fremdenfeindlichkeit und damit zusammenhängender Intoleranz geführt.

Der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg hat als Zeichen gegen Kolonialismus und Rassismus das Gröbenufer in May-Ayim-Ufer umbenannt. Damit soll zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus und zu einer Umkehr der Erinnerungsperspektive angeregt werden.

May Ayim, Erinnerung und Dekolonisierung durch Perspektivumkehr

Eine Straßenumbenennung sollte, wenn sie eine dekolonisierende Wirkung entfalten soll, eine umfassende Perspektivumkehr vollziehen. Diese kann sich nicht im Austauschen einiger Straßenschilder erschöpfen. Es bedarf dazu eines Gedenkkonzeptes, das den Hintergrund der Umbenennung in der Straße selbst sichtbar werden lässt, wie am May-Ayim-Ufer im Berliner Stadtteil Kreuzberg: Dort wurde am 27. Februar 2010 zum ersten Mal in Deutschland eine Straße nach einer afrodeutschen Aktivistin benannt, die gegen Rassismus und für die kritische Auseinandersetzung mit Kolonialismus stritt. May Ayim war eine der in den vorangegangenen Ausgaben dieses Dossiers gelisteten  Namenspatron_innen. Sie hatte sich in ihrem poetischen und wissenschaftlichen Werk mit der Geschichte des Kolonialismus, der Gegenwart des Rassismus und der Präsenz Schwarzer Menschen in den letzten 300 Jahren deutscher Geschichte auseinandergesetzt. Nach langer Aufklärungsarbeit und kontroversen Debatten beschloss das Bezirksparlament Friedrichshain-Kreuzberg am 27.5.2009 die Umbenennung des Gröbenufers in May-Ayim-Ufer. Das am May-Ayim-Ufer umgesetzte Gedenkkonzept beinhaltet eine Gedenkstele, auf der in deutscher und englischer Sprache die Geschichte, die mit dem alten und der neuen Namenspatronin verbunden ist, beschrieben wird.

Das May-Ayim-Ufer zeigt so exemplarisch auf, wie der eingeforderte Perspektivwechsel ohne das Überdecken von Geschichte möglich ist. Es macht auch erfahrbar, welches Potential sich mit dem Wechsel der Erinnerungsperspektive verbindet: Denn heute ist das May-Ayim-Ufer Ziel von Stadtführungen und anlässlich May Ayims Geburtstag wird jedes Jahr direkt am Ufer mit Musik, Performances und Vorträgen gefeiert. So wird die Bedeutung einer vielschichtigen und von unterschiedlichen Perspektiven auf die geteilte Geschichte geprägte Erinnerungskultur im öffentlichen Raum erlebbar.

Berlin neu lesen

Die folgende Liste von Berliner Straßennamen, die sich bis heute positiv auf das ehemalige deutsche Kolonialreich beziehen, macht deutlich, dass dringender Handlungsbedarf besteht. In allen aufgelisteten Straßen sollte durch Kommentarschilder am Straßenschild auf ihren kolonialen Kontext verwiesen werden. Dies ist bei der Mehrheit der Straßen, die nach Ländern,  Orten, Flüssen oder Landstrichen benannt sind, ausreichend. An Orten, wo die »Kolonialpioniere« für ihre Rolle bei der gewaltsamen Begründung des deutschen Kolonialreichs geehrt werden, sind Umbenennungen jedoch unumgänglich. Solche Personen sind als Namenspatrone für Straßen in einem demokratischen Gemeinwesen nicht tragbar, ebenso wenig wie Straßen, die rassistische Begriffe alltäglich für tausende Passant*innen reinszenieren und so auch legitimieren.

Die Bezirke – in Berlin für Straßenumbenennungen zuständig – sollten daher umgehend tätig werden. Die Erfahrung der vergangenen Jahre hat gezeigt, dass kritische Nachfragen und nachhaltiges Engagement von Anwohner_innen und Akteur_innen der Zivilgesellschaft einen Perspektivwechsel im Stadtbild herbeiführen können. Das May-Ayim-Ufer macht deutlich, welche Potentiale in der Umsetzung der eingeforderten Perspektivumkehr stecken – wenn nur genügend Berliner_innen dazu eingeladen werden, die Stadt neu zu lesen.

Text: Joshua Kwesi Aikins, 1. Foto: Martin Weinhold, 2. Foto: Tahir Della