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Ungleiche Mobilität

Koloniale Kontinuitäten in der Migrationspolitik

Wie und wohin sich Menschen weltweit bewegen – freiwillig oder unfreiwillig, sicher oder gefährlich, diskriminiert oder privilegiert – hängt auch davon ab, ob ihre Bezüge in ehemaligen Kolonien oder Kolonialmächten liegen. Migrationspolitik wird bis heute durch den Kolonialismus, durch europäische Expansion und Siedlungspolitik, durch Versklavung und Zwangsmigration geprägt: Der Pass bestimmt den Grad der (Un-)Freiheit. Die Vision der Bewegungsfreiheit für alle bedeutet auch Grenzen und rassistische Migrationsdiskurse, die in kolonialen Kontexten entstanden sind, aufzubrechen.

Dekolonisierung, Kolonialismus & Postkolonialismus

Kolonialismus ist ein historisch gewachsenes globales System rassistischer Gewalt, Ausbeutung und Ungleichheit unter europäischer Vorherrschaft. Das „post-“ beschreibt nicht das Ende des Kolonialismus, sondern betont dessen fortwirkenden Einfluss auf die Gegenwart – und zwar sowohl in den ehemals kolonisierten Gebieten als auch in den Gesellschaften, die kolonisiert haben.

BIPoC – Black, Indigenous, People of Color

BIPoC umfasst Selbstbezeichnungen verschiedener Gruppen, die etwa von anti-Schwarzem oder anti-asiatischem Rassismus betroffen sind. Sie verweisen einerseits auf Prägungen im Kontext von Rassismus mit seiner Geschichte von Versklavung, Kolonisierung und Widerstand – andererseits eint sie die gemeinsame Erfahrung von strukturellem Rassismus. (BER)

Kolonialismus

Kolonialismus ist ein historisch gewachsenes globales System rassistischer Gewalt, Ausbeutung und Ungleichheit unter europäischer Vorherrschaft.

Dekolonisierung (BER)

Dekolonisierung benennt den Prozess, diese vielfältigen kolonialen Hinterlassenschaften abzubauen. (BER)

Dekolonialisierung

beschreibt den historisch formalen Prozess der sogenannten staatlichen Unabhängigkeit ehemaliger Kolonien, damit unterscheidet er sich von Dekolonisierung als andauernden Prozess der Veränderung. (BER)

Globaler Norden – Globaler Süden

Die Begriffe “Globaler Süden” und “Globaler Norden” beschreiben die historisch gewachsenen und gegenwärtigen Macht- und Unterdrückungsstrukturen auf globaler Ebene. Der Begriff Globaler Süden beschreibt Länder und Orte auf der Welt (zum Beispiel Länder in Afrika, Südostasien oder Süd- und Mittelamerika), die sich global betrachtet in einer politisch und wirtschaftlich benachteiligten Position befinden. Dieser Zustand ist auf die europäische Kolonialzeit und die damit verbundene Ausbeutung jeglicher Art zurückzuführen, die wiederum vom Globalen Norden (zum Beispiel Europa und die USA) ausgeht. Länder des Globalen Nordens befinden sich in einer privilegierten Machtposition und werden auch häufig als “westliche Welt” oder der “Westen” bezeichnet. Die Einteilung in Süd und Nord wird unabhängig von der geografischen Verortung verstanden, denn auch Australien zählt zum Beispiel zu den Ländern des Globalen Nordens. Die Bezeichnung Globaler Süden soll wertende und fremdbestimmte Ausdrücke für die besagten Länder ersetzen. (Laura Bechert, Shaylı Kartal, Dodo)

Intersektionalität

Im Wort Intersektionalität steckt das englische Wort „Intersection“, was auf Deutsch „Überschneidung“ oder „Kreuzung“ bedeutet. Der Begriff ist auf die Wissenschaftlerin und Juristin Kimberlé Crenshaw zurückzuführen.
Er macht deutlich, dass viele Menschen nicht nur entweder von der einen oder der anderen Diskriminierungsform betroffen sind, sondern unterschiedliche Formen sich gleichzeitig auswirken (können). Menschen können also zum Beispiel aufgrund ihres Alters, ihrer Hautfarbe und ihrer Geschlechtsidentität mehrfach diskriminiert werden. Bei der Diskriminierung von Menschen spielen verschiedene soziale Ungleichheiten bzw. Machtverhältnisse zusammen. Klassismus ist ebenfalls eine Form der Diskriminierung aufgrund der finanziellen, wirtschaftlichen benachteiligten Situation einer Person, die intersektional wirkt. (Laura Bechert, Shaylı Kartal, Dodo)

Mehrfachdiskriminierung

Hierbei handelt es sich um eine Diskriminierung aufgrund der Zuschreibung zu mehreren sozialen Gruppen. LSBTI können so Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung und / oder der geschlechtlichen Identität erfahren und darüber hinaus aufgrund anderer Faktoren. So kann eine Schwarze, lesbische Frau* Diskriminierung aufgrund rassistischer Zuschreibungen, aufgrund des Lesbischseins und aufgrund des Lesbischseins als Schwarze und als Frau* erleben. (LSVD)

Neokolonialismus

bezeichnet fortwirkende oder neue Formen von Abhängigkeit und Ausbeutung nach dem Ende des formalen Kolonialismus. Demnach werden ehemals kolonisierte Gebiete heute mit neokolonialistischen Mitteln indirekt von ehemaligen Kolonialmächten beherrscht, u.a. durch finanzielle (z.B. durch Kredite), aber auch politische, technologische, militärische oder kulturelle Abhängigkeiten. (NdM)

Rassifizierung

Rassifizierung (auch: Rassialisierung, Rassisierung) bezeichnet die Konstruktion von „Rassen“ durch Kategorisierung, Homogenisierung und Hierarchisierung von Menschen auf der Grundlage ausgewählter Merkmale wie Hautfarbe, Sprache oder Religion. Dem Merkmal wird eine existenzielle Bedeutung zugeschrieben und zugleich wird es als wesentliches Unterscheidungsmerkmal gegenüber anderen Gruppen begriffen. (RISE)

„Schwarz“ und „weiß“

„Schwarz“ wird nicht als biologistische Zuordnung verwendet, sondern bezeichnet eine politische und soziale Konstruktion. In Anlehnung an die Black-Power-Bewegung wurde die Bezeichnung „Schwarz“ zu einem Symbol für den Widerstand gegen Rassismus und verweist auf die Konstruktion von Hautfarbe als Differenzierungsmerkmal. Die Großschreibung weist auf eine Strategie der Selbstermächtigung hin. Auch weiß stellt ein soziales Konstrukt dar. Dennoch wird weiß klein geschrieben, um es von Schwarz und der darin eingeschriebenen Selbstermächtigung zu unterscheiden. Weiß wird kursiv gesetzt, um den konstruierten Charakter deutlich zu machen. Er markiert Personen oder Verhältnisse angesichts rassifizierter Vorstellungen als Macht ausübend und normgebend. Weiß kann auch eine kritisch positionierte Selbstbezeichnung sein, um diese in der Regel unbenannte aber privilegierte Positionierung weißer Menschen sichtbar zu machen. (BER)

Der Pass als Werkzeug kolonialer Macht

In Deutsch-Südwestafrika, dem kolonisierten Namibia, mussten Schwarze Namibier*innen eine Passmarke tragen und auf Verlangen der Polizei vorzeigen. Die Bewegungsfreiheit eines Menschen wird bis heute durch ein offizielles Dokument, eine Ausweiskarte oder einen Reisepass festgeschrieben. Darin festgehalten ist auch der vom Staat erteilte Status. Der Status bestimmt darüber, wo sich eine Person aufhalten kann, ob und wohin sie reisen kann, ob oder wie sie arbeiten kann. Der Pass ist ein Werkzeug kolonialer Macht, da er im Kolonialismus gezogene Grenzen legitimiert und die Bewegungsfreiheit von Menschen aus den ehemaligen Kolonien einschränkt. Indem er die physische Beschaffenheit von Menschen, ihre Herkunft und ihren Geburtsort beschreibt, ist er auch ein Instrument der Klassifikation und Sichtbarmachung von Differenz.

Koloniale Geschichten von Migration

Mit Beginn des Kolonialismus Ende des 15. Jahrhunderts erfolgten systematisch freiwillige und unfreiwillige Migrationsbewegungen. Im transatlantischen Versklavungshandel wurden Millionen Menschen afrikanischer Herkunft gewaltvoll nach Nord, Mittel- und Südamerika, in die Karibik und nach Europa versklavt. Auch Brandenburg-Preußen war Teil des Systems des europäischen Kolonialismus und Versklavungshandels. 1896 wurden 106 Menschen aus den Kolonien bei der sogenannten Völkerschauen in Berlin ausgestellt, darunter Martin Dibobe. Viele Menschen afrikanischer Herkunft wurden in deutschen Missions- und Kolonialschulen für eine Arbeit in den Kolonien ausgebildet. 1919 forderte Dibobe in einer Petition die »Selbstständigkeit und Gleichberechtigung« der Menschen in und aus den deutschen Kolonien. Viele weiße Europäer*innen wanderten durch die europäische Expansionspolitik nach Nordamerika oder in die Kolonien aus. Fast 1,8 Millionen Deutsche gingen Ende des 19. Jahrhunderts nach Nordamerika. Das Deutsche Reich verfolgte eine systematische Siedlungspolitik im heutigen Namibia. Bis 1914 waren bis zu 13.000 weiße Deutsche dort angesiedelt. Bis heute baut die ungerechte Verteilung von Land zwischen weißen und Schwarzen Menschen in Namibia auf dieser Siedlungspolitik auf.

Zum Weiterlesen:

Foto: Daniela Incoronato 

Ausstellung „zurückgeschaut | looking back – Die Erste Deutsche Kolonialausstellung von 1896 in Berlin-Treptow“

Grafik: Rosa Luxemburg Stiftung

Atlas der Migration

Logo: Visual Intelligence

Video zur Ausstellung: TROTZ ALLEM: Migration in die Kolonialmetropole Berlin, Museum Friedrichshain-Kreuzberg

Foto: BVG Archiv

Katharina Oguntoye: Afrikanische Zuwanderung nach Deutschland zwischen 1884 und 1945,

Visa-Wie? Kampagne gegen diskriminierende Visaverfahren

Die Kampagne fordert ein transparentes und faires Visaverfahren und die Abschaffung des Kriteriums „Rückkehrbereitschaft“. Sie wurde vom BER-Mitglied Zugvögel – Grenzen überwinden e.V. initiiert, da sie – wie viele andere Vereine, die mit Partner*innen aus dem Globalen Süden arbeiten – Schwierigkeiten hatten, Visa für Freiwillige aus dem Globalen Süden nach Deutschland zu erhalten. Neben vielen Hintergrundinformationen stellt die Kampagne „Das Reisepass-Quartett – Ein grenzwertiges Gesellschaftsspiel“ als Bildungsangebot zur Verfügung.

Solange sich die Entwicklungszusammenarbeit jedoch für sicherheits-, migrations- und wirtschaftspolitische Zielsetzungen instrumentalisieren lässt, kann sie nicht feministisch sein.

Radwa Khaled-Ibrahim und Karoline Schaefer, Feminismus von oben. (Un-)Möglichkeiten feministischer Entwicklungspolitik. In: Mainstreaming Decolonize! Koloniale Kontinuitäten in der Entwicklungspolitik. BER (2022).

Decolonize Berlin, Dekolonisierung in der Berliner Stadtpolitik. Ein gesamtstädtisches Aufarbeitungskonzept Berlins kolonialer Vergangenheit. In: Mainstreaming Decolonize! Koloniale Kontinuitäten in der Entwicklungspolitik. BER (2022).

Lucia Fuchs, Reisen als koloniales Privileg. Gewalt ungleicher Mobilität. In: Mainstreaming Decolonize! Koloniale Kontinuitäten in der Entwicklungspolitik. BER (2022).



Interview mit Sima Luipert, Joyce Muzengua, Sarah Imani. In: Mainstreaming Decolonize! Koloniale Kontinuitäten in der Entwicklungspolitik (2022). BER