Nachtigalplatz

Warum umbenennen? Gustav Nachtigal nahm eine Schlüsselfunktion bei der Errichtung der deutschen Kolonialherrschaft über die drei westafrikanischen Kolonien Togo, Kamerun und »Deutsch-Südwestafrika« (heute Namibia) ein. Dabei griff er auf militärische Gewalt und in Togo sogar auf Erpressung durch Geiselnahme zurück.

Der Nachtigalplatz in Mitte

… liegt im »Afrikanischen Viertel« und trennt die Petersallee in zwei Teilstücke. Es gibt eine gleichnamige Bushaltestelle auf der Afrikanischen Straße, die über den Platz verläuft. Der Platz hat einen Umfang von 550 Meter und beherbergt einen Teil der unter Denkmalschutz stehenden Friedrich-Ebert-Siedlung, die zwischen 1929 und 1939 auf Grundlage des Entwurfs der Architekten Paul Mebes und Paul Emmerich entstanden ist.

Benennungsjahr der Straße: 1910

Welche Stadt hat bereits umbenannt?

Hannover (2010): Umwidmung der Straße 
»Der Bezirksrat Südstadt-Bult hatte auf Initiative von SPD und Grünen beschlossen, einige Straßen wegen Verstrickungen der Namensgeber in Verbrechen während der Kolonialzeit oder im Nationalsozialismus umzuwidmen.« (1)

Wie umbenennen?

Die Initiator*innen dieses Dossiers fordern bei der Umbenennung des nach Nachtigal benannten Platzes den Bezug zur Kolonialgeschichte beizubehalten, aber die Perspektive der Erinnerung umzukehren. Das heißt, dass Personen des Widerstandes gegen die Kolonialmächte und gegen rassistische und koloniale Strukturen geehrt werden sollten.

Zu möglichen Alternativnamen

Stellvertretend für alle Märtyrer*innen, Held*innen und Menschen, die durch Verfolgung, Entmenschlichung und Krieg in den Tod gerissen wurden, fordern Bündnisse seit Jahrzehnten die Umbenennung des »N…..lplatzes« in »Manga-Bell-Platz« sowie eine offizielle Anerkennung der während der »Maafa« – Große Zerstörung – verübten Völkermorde und Verbrechen und entsprechende Entschädigungen. Dazu gehören der Zentralrat der Afrikanischen Gemeinde in Deutschland e.V., die Bana Ba Sawa de Berlin e. V., eines Vereins der Kameruner*innen der Küstenregion und die panafrikanische Frauenorganisation PAWLO, in deren jeweiligen Vorständen ich tätig bin. Zusammen mit allen anderen Angehörigen von Ngoso Din, mit den Familienmitgliedern der 100 anderen Märtyrer* innen des Widerstands, die am 8. August 1914 ermordet wurden und allen Enkeltöchtern der vielen Widerstandkämpferinnen, möchte ich, dass unsere Ahnen während dieser UN-Dekade für Menschen afrikanischer Herkunft /Abstammung (2015 – 2024) endlich Gerechtigkeit erfahren und in Frieden ruhen können.
Marianne Ballé Longo Moudoumbou

Zur Person

Gustav Nachtigal (geboren am 23.2.1834 in Eichstedt/ Altmark, verstorben am 20.4.1885 vor der Küste Westafrikas)

Im Jahr 1910, anlässlich des 25. Todestages seines Namensgebers, wurde der zentrale Platz des »Afrikanischen Viertels« nach Gustav Nachtigal (1834 – 1885) benannt, der in Lexika zumeist nur als »Afrikaforscher« beschrieben wird. Als junger Militärarzt arbeitete Nachtigal 1862/63 im nordafrikanischen Algerien und Tunesien, bevor er von 1868 bis 1875 als Gesandter der preußischen Regierung durch Regionen Zentralafrikas reiste (heute Tschad, Nigeria, Kamerun, Sudan), die der europäischen Öffentlichkeit bis dahin noch unbekannt waren.

Gefeierter »Afrikaforscher«

Bei seiner Rückkehr nach Deutschland wurde dem bereits als verschollen Geltenden große Aufmerksamkeit zuteil. Er hielt Vorträge über seine Erlebnisse und Studien und wurde zum stellvertretenden Vorsitzenden der »Afrikanischen Gesellschaft von Deutschland« berufen. Nach Veröffentlichung des ersten Bandes seines viel rezipierten Reise- und Forschungsberichtes »Sahara und Sudan« im Jahre 1879 ernannte ihn auch die »Berliner Gesellschaft für Erdkunde« zu ihrem Präsidenten.

Reichskommissar für Westafrika

Seltener wird erwähnt, dass Nachtigal 1882 dem diplomatischen Dienst beitrat und als Generalkonsul des Deutschen Reiches nach Tunis entsandt wurde. Im Vorfeld der Berliner Afrika-Konferenz 1884, bei der über die Aufteilung Afrikas unter den europäischen Kolonialmächten verhandelt wurde, übernahm er auf Drängen Bismarcks die Aufgaben eines Reichskommissars für Westafrika. Im Geheimauftrag fuhr er mit einem Schiff der deutschen Marine nach Westafrika, um dort die Landkäufe der hanseatischen Afrikahändler in West und Südwestafrika durch die Errichtung von »Schutzherrschaften« gegen die europäische Konkurrenz zu sichern.

Kein Kolonialkritiker

Im Privaten äußerte sich Nachtigal kritisch über seine Aufgabe. Der Grund dafür war jedoch nicht, dass er Einwände gegen die Kolonisierung von souveränen afrikanischen Reichen hatte. Nachtigal kritisierte, dass anstelle von staatlichen Interessen privatwirtschaftliche Unternehmungen von hanseatischen Händlern gefördert wurden. Seine Missionen erledigte er »mit großer Gewissenhaftigkeit und Energie«, wie es das »Deutsche Koloniallexikon« später formulierte. (2)

Collage der NS-Kolonialpropaganda (Koloniales Bildarchiv, Universitätsbibliothek Frankfurt/ Main)

Geiselnahme und Erpressung

Dabei griff Nachtigal, wie der togoische Historiker Benjamin Apegnowou Afanvi bei seinem Besuch des »Afrikanischen Viertel« in Berlin 2012 betonte, nachweislich auch zu kriminellen Methoden. Er versuchte im Juli 1884 in Klein Popo den ersten »Schutzvertrag« vom einheimischen König G.A. Lawson III. zu erpressen, indem er die zwei von der deutschen Marine nach Berlin entführten westafrikanischen Geiseln Gomez und Wilson länger als beauftragt an Bord seines Kriegsschiffes »Möwe« gefangen hielt. (3)

Kanonenbootpolitik

Auch in Kamerun spielte sich die »Schutzherrschaft« in der Reichweite der deutschen Kanonenboote ab und war mit militärischer Gewalt verbunden. So kam es schon bald nach seiner vom Handelshaus Woermann vorbereiteten Flaggenhissung und Nachtigals Weiterreise in Richtung Südwestafrika zum ersten blutigen Militäreinsatz der deutschen Marine gegen diejenigen, die sich der Kolonisierung entgegenstellten. Dabei wurden von deutschen Kolonialbeamten auch zum ersten Mal wertvolle Kulturschätze geplündert: Bis heute befindet sich der von Nachtigals Stellvertreter Max Buchner geraubte königliche Schiffsschnabel Tangué im Münchner Museum Fünf Kontinente. (4)

Wegbereiter des deutschen Kolonialismus

In seiner Funktion als Reichskommissar für Westafrika legitimierte Nachtigal auch die von Adolf Lüderitz betrügerisch erworbenen Landrechte in Angra Pequena / Lüderitzbucht. Er unterstützte damit den »Meilenschwindel« des Bremer Kolonialhändlers zu Anfang der Kolonisierung »Deutsch-Südwestafrikas« (heutiges Namibia), die ihren Höhepunkt im Völkermord an den einheimischen Nama und Ovaherero fand. Nachtigal hatte eine Schlüsselfunktion bei der Errichtung der deutschen Kolonialherrschaft über die drei westafrikanischen Kolonien Togo, Kamerun und »Deutsch-Südwestafrika« inne. Als Wegbereiter des deutschen Kolonialismus trägt er Mitverantwortung für dessen Verbrechen. (5)

1. »Nachtigalstraße in Hannover umgewidmet«, Hannoversche Allgemeine, 27.3.2010.
2. Zit. nach »Nachtigal, Gustav«, in: Schnee, Heinrich (Hrsg.), Deutsches Koloniallexikon, Leipzig 1920, S. 612.
3. Zur Haft der Geiseln in Berlin: Die Gartenlaube, Nr. 21, Leipzig 1884. Zur versuchten Erpressung des »Schutzvertrages« durch Gustav Nachtigals Verlängerung dieser Geiselhaft: Buchner, Max: Aurora Colonialis. Bruchstücke eines Tagebuchs aus dem ersten Beginn unserer Kolonialpolitik, 1884 – 1885, München 1914, S. 46f; Sebald, Peter: Die deutsche Kolonie Togo 1884 – 1914, Berlin 2013, S. 23ff.
4. Dazu u. a. Möhle, Heiko: Aus Freihändlern werden Kolonialherren, in: Möhle, Heiko (Hrsg.): Branntwein, Bibeln und Bananen. Der deutsche Kolonialismus in Afrika – eine Spurensuche in Hamburg, Hamburg 1999; Buchner, Max: Aurora Colonialis. Bruchstücke eines Tagebuchs aus dem ersten Beginn unserer Kolonialpolitik, 1884 – 1885, München 1914, S. 197f.
5. Zu Nachtigal siehe auch: Wehler, Hans-Ulrich: Bismarck und der Imperialismus, Köln / Berlin 1969; Gründer, Horst: Geschichte der deutschen Kolonien, Paderborn 1985; Priesner, Claus: Gustav Nachtigal, in: Neue Deutsche Biographien, Band 18, Berlin 1997, S. 682 – 684; Kum‘a Ndumbe III., Alexandre: Das Deutsche Kaiserreich in Kamerun: wie Deutschland in Kamerun seine Kolonialmacht aufbauen konnte 1840 – 1910, Berlin 2007.

Text „Zur Person“: Christian Kopp, Fotos: Tahir Della